Dr. phil. Peter Guttkuhn: „Ein deutsch-jüdisches Lübecker Hochzeitsfest Anno 1872“

Auch heute setzen wir in hier-luebeck die Vorstellung der Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historiker Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ fort. Heute: Dr. phil. Peter Guttkuhns Publikation „Ein deutsch-jüdisches Lübecker Hochzeitsfest Anno 1872“
Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn
Ein deutsch-jüdisches Lübecker Hochzeitsfest Anno 1872
Im Zusammenhang mit seiner Schilderung der Moislinger jüdischen Hochzeitsbräuche erzählt der Kaufmann Eisak Jacob Schlomer (1845-1914) auch von einem weithin bekannten Original: „Unter den Musikern war stets ein Jude „Lewertoff“, der die Trommel schlug und das Wort geprägt hat: „Dafür sind wir l e i d e r Juden““. Dieser Salomon Lazarus Lewertoff kam aus Lübeck, war dort 1810 geboren und gehörte zu den acht bzw. neun jüdischen Familien, die auch nach der Zwangsaussiedlung der Jahre 1822/23 innerhalb der Ringmauern der Stadt verbleiben durften. Der Name „Lewertoff“ ist wahrscheinlich von dem polnischen Ortsnamen „Lubartow“ abgeleitet.
Der Großvater Salomon Lewertoff, geboren 1721, war zusammen mit seinem Bruder Moses im Jahre 1768 nach Lübeck gekommen. Beide stammten aus Halle an der Saale und besaßen den Status von königlich-preußischen Schutzjuden. „Sie sind gelehrte Juden: haben in Berlin und Frankfurt an der Oder außer andern Wissenschaften belles lettres studiret, auch in Ceremonial-Sachen manches entschieden, so von Rabbinen Beyfall erhalten“, bestätigte die Wette, die lübeckische Gewerbepolizei-Behörde. Doch es war außergewöhnlich schwierig, in Lübeck Fuß zu fassen, das Niederlassungsrecht zu erwerben. Der in Hamburg residierende preußische Gesandte von Hecht verwandte sich beim Lübecker Senat für die Lewertoffs. Vergeblich. Vielmehr wurden sie aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Juden durften in Lübeck nicht wohnen, vor allem aber nicht arbeiten, weder ein Handwerk noch ein Gewerbe ausüben.
Von Halle an der Saale nach Lübeck an der Trave
Da kam es ihnen durchaus nicht ungelegen, daß sie mit dem einheimischen evangelischen Lotterie-Collecteur Christian Hüsener in einen langwierigen Rechtsstreit gerieten. Für die Dauer des Prozesses – so der Senat – durften sie weiterhin in der Stadt bleiben. Und 1773, nach Beendigung des Rechtsstreits, waren sie praktisch heimisch geworden. Nun beschwerte sich der lübeckische Schutzjude Elkan Meyer Stern, der sich in seinem privilegierten Gewerbe durch die beiden Lewertoffs beeinträchtigt fühlte und deren Ausweisung aus der Stadt verlangte. Die aber unterbreiteten dem Senat ihren Plan, in Lübeck eine Porzellanfabrik zu gründen. Daraufhin erhielten sie das Aufenthaltsrecht – wenngleich das Wirtschaftsprojekt wenig später scheiterte.
Seit seinem sechsten Lebensjahr hielt sich auch der 1762 in Halle/Saale geborene Sohn des Salomon L., Lazarus Salomon Lewertoff, in Lübeck auf, hatte sozusagen stillschweigend ein Aufenthaltsrecht erworben. Bereits als Heranwachsender hausierte er in der Stadt und vor den Toren, überwiegend mit selbstverfertigten Zigarren. In der Zeit französischer Besetzung heiratete er die 28 Jahre jüngere Jette Bacharach aus Hamburg. Am 15. Oktober 1810 wurde ihnen ihr einziges Kind geboren: Salomon Lazarus Lewertoff.
Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Lübeck waren deprimierend. Weil sie Juden waren, verbot der Senat der kleinen Lewertoff-Familie ihren Hausierhandel mit den selbstgefertigten Zigarren, obwohl die Familie sogar amtlich „zu den Trödlern geringster Classe“ gerechnet wurde, von denen „wesentlicher Nachtheil“ für die christlichen lübeckischen Krämer „nicht zu befürchten“, die dem Handel insgesamt „unschädlich“ seien. Nachdem sein Vater Lazarus Salomon am 6. Juni 1829 gestorben war, fiel dem unmündigen Sohn die Hauptverantwortung zu, für den „Nahrungsbetrieb“ Sorge zu tragen.
Der kleine Mann mit der großen Familie
Salomon Lazarus betätigte sich seit früher Jugend als Musikus, späterhin auch als Lotterie-Einnehmer. Er handelte mit Wollen-, Garn- und Weißwaren, aber auch mit „holländischen“ Waren, worunter man Milchprodukte aller Art verstand. Und er arbeitete als Vereinsbote und Gesindemakler, Lehrer, Buchbinder, Färber und Drucker. Doch das Geld, das der kleine Mann, der Hoch- und Niederdeutsch durcheinander und mit jiddischem Tonfall sprach, heimbrachte, reichte selten.
Besonders knapp wurde es seit 1847, nachdem er die 20-jährige Betty Hartefeldt geheiratet hatte: 17 Kinder entsproßen zwischen 1848 und 1869 der Ehe:
1. Lazarus Salomon * 15.09.1848
2. Koschmann Gottfried Salomon * 01.06.1850
3. Blume (Bertha) * 05.09.1851
4. Nathan Salomon * 22.02.1853
5. Goldchen * 18.04.1854
6. Julius Salomon * 26.04.1856
7. Hermann Händel Salomon * 09.09.1857
8. Henriette * 12.11.1858
9. Julie * 09.12.1859
10. Emma * 13.12.1860
11. Hermann Hänel Salomon * 01.02.1862
12. Abraham Salomon * 12.03.1863
13. Rosalie * 27.08.1864
14. Friederike (Frieda) * 06.10.1865
15. Joseph * 11.01.1867
16. Herz Salomon * 01.04.1868
17. Bernhard Salomon * 10.11.1869
Fünfmal mußten die Lewertoffs ihre Wohnungen wechseln, weil sie zu klein geworden waren. Seit 1855 lebte die Familie im Hause Schlumacherstraße 158 (heute: Nr. 8). Seine Mutter wohnte bis zu ihrem Tod am 13. September 1857 ebenfalls hier und mußte versorgt werden. Und am 17. November 1875 verstarb hier seine Ehefrau Betty, gerade 48 Jahre alt. Salomon Lazarus Lewertoff – die Lübecker nannten ihn fälschlicherweise manchmal auch „Lebertoff“ – starb am 10. Juli 1898. Tags darauf wurde er unter großer Anteilnahme seiner Nachbarn auf dem jüdischen Friedhof in Moisling beigesetzt. Er war fast 88 Jahre alt geworden.
Goldene oder silberne Hochzeit?
Der Lübecker evangelisch-lutherische Schauspieler Hans Calm (1858-1946), der bis zum 19. September 1876 in der Hansestadt lebte und dessen Vater auf der mittleren Fleischhauerstraße 78 eine Gastwirtschaft besaß, hat den Lewertoffs ein literarisches Denkmal gesetzt. Bei Koehler & Amelang in Leipzig veröffentlichte er 1928 sein Erinnerungsbuch „Freud und Leid einer Jugendzeit“. Darin schildert er – auf den Seiten 57 bis 62 – ausführlich und plastisch eine Feier zur „goldenen Hochzeit“. Wenn Calm auch mit Daten und Fakten außergewöhnlich frei umgeht – (Wie und wann könnte ein Witwer goldene Hochzeit feiern? Oder handelt es sich in Wirklichkeit nicht um die Silberhochzeit aus dem Jahr 1872?) -, so fühlt sich seine anrührende Geschichte doch atmosphärisch gut ein in die Welt unterprivilegierter Menschen, in eine kleine Welt voll von Toleranz, Solidarität und Friedfertigkeit:
„In Not und Leid stand ohne große Sentimentalität ein Nachbar dem andern zur Seite, ebenso wie einer an des andern Freuden teilnahm, ohne viel Wesen davon zu machen. Ja, es ist sehr wohl möglich, daß sie sich über die Beweggründe keine Rechenschaft gaben. Sie taten es, weil sie es für das Rechte, vielleicht auch für das Bequemste hielten. Die leidige Politik hatte diese Kreise noch nicht entzweit, der Kampf gegen das Kapital war ihnen unbekannt, und nun gar gegen das jüdische Kapital. Die Juden, die unter ihnen lebten, mußten sich ebenso wie sie alle quälen, um bestehen zu können, und der Lächerlichkeit des Glaubenshasses verfielen sie schon gar nicht. Ohne von Lessing je gehört zu haben, dachten sie doch wie er: „Weil unser Herr ja selbst ein Jude war“.
In unserer Nachbarschaft, zwischen der Hüx- und Fleischhauerstraße, wohnte der Jude Samuel Levertopf. Jahrzehntelang war er am Montag morgen mit seinem Packen Manufakturwaren aufs Dorf gegangen und am Freitag Nachmittag nach Hause gekommen. In seiner Abwesenheit besorgte seine Frau das kleine Ladengeschäft. Nun war er alt. Hausieren gehen konnte er nicht mehr. Er brauchte aber auch nicht mehr so viel wie früher zu verdienen. Die Kinder waren groß und nicht mehr im Hause. 21 Jungs und Mädchen hatte das Ehepaar, und alle waren gut geraten. Bald waren Levertopfs fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Die Frage, ob die silberne Hochzeit gefeiert werden sollte, war nicht so ohne weiteres zu beantworten, sie mußte mit den Nachbarn gründlich besprochen werden. Die aber rieten zu: „Fier se, Lewerpott, so wat kümmt man eenmal vör in’n Lewen“. „Aber“, hatte er seine Bedenken, „was das kostet, und wo soll ich die Kinder lassen? Meent je, ich kann se ünnerbringen?“ „Nu, nu, Lewerpott, lat se man kamen. Wi helpt all so god, as wie köhnt“. – Und Lewertoff feierte.
Wohin mit 104 Hochzeitsgästen?
Am Nachmittag vorher bekränzten die Nachbarn Haus- und Stubentüren und zogen Girlanden über die Straßen. Den ganzen Tag kamen Kinder, Enkel und Urenkel an, oft aus weiter Ferne. Nach Möglichkeit nahm Levertopf sie selber auf. Aber 104? Du lieber Gott, im ganzen Hause war nicht für zwanzig Menschen Sitzgelegenheit, geschweige, daß es so viele Betten gab. Die Nachbarn halfen. Jeder nahm so viel von Levertopfs Nachkommenschaft auf, wie er unterbringen konnte. Das ging damals leichter als heutzutage. Verwöhnt war keiner, und auf dem großen Hausboden ließen sich viele Lagerstätten herrichten. Regnete es durchs Dach, guckte der Mond ins Bett oder hatte eine fremde Katze das Bett mitbenutzt – wer hat sich darum gekümmert?
Auch das Girlandenziehen quer über die Straße war Sache der Hausbewohner. Keine Polizei redete hinein. Eine Erlaubnis wurde von keinem eingeholt und von keinem gegeben. So gescheit waren die Eltern allein, die Blumengewinde so hoch zu hängen, daß kein Pferd vor ihnen scheute. Wir Kinder flochten, irgendein älterer Bengel konnte eine Inschrift zeichnen: „Levertopfs goldene Hochzeit“ oder „Nu noch mal 25“ oder „Das goldene Ehepaar soll leben“, und die Väter banden die Girlanden von Haus zu Haus.
Am Vortage waren nachmittags und abends die Nachbarn im Sonntagsstaat zum Gratulieren ins Haus gegangen, jeder ausgerüstet mit etwas, das das Durchfüttern so vieler Personen erleichterte: Die Frauen brachten selbstgebackenen Kuchen, der Bäcker schickte ein paar tüchtige Schwarzbrote, der Zuckersieder Bonbons für die Kinder, der Schlachter brachte Braten und Wurst: „Pott, du glöwst mi doch, dat dat koschere Saken sünd, ich heff se sülben utsöcht bi ju’n Schächter“.
Und Levertopf – der kleine Kerl mußte beide Hände nehmen, wenn er die Pratze des Schlächters umklammern wollte – sagte: „Was machst du för’n Geseires. Kenn ich dich von gistern, oder kenn ich dich sid du west büst’n Hosenmatz? Du bist’n redliken Mann un deist blot Redliches“.
Nachbarschaftshilfe der kleinen Leute
Am Festmorgen ging der Zug von Kindern, Kindeskindern und Kindeskindeskindern mit den Eltern nach der Synagoge in die Wahmstraße. Die Nachbarn standen vor ihren Häusern und riefen: „Veel Glück, oll Fründ!“ Levertopf und Frau nickten nach rechts und nickten nach links und alle Nachkommen taten ebenso. Als nun die ganze Mischpoche fort war, übernahm Chrischan Peters – er wohnte bei meinen Eltern – das Kommando : „Jungs, alle Stöhl un de veereckigen Dische drägt röber na Bäcker Schabbel“. Der besaß die größte Diele, und auf ihr war für das Festmahl gedeckt. Die Frauen der jüdischen Glaubensgenossen hatten gekocht, und ein halbes Dutzend unserer Marien war abkommandiert to’n bedeenen.
Trotz allem guten Willen war es keine Kleinigkeit gewesen, die große Zahl unterzubringen. Als es schließlich gelungen und die Suppe verzehrt war, stand der alte Levertopf auf und hielt mit viel Zagen und Stocken die größte Rede seines Lebens :
„Kinner! Eure Mutter und ich feiern heute das Fest unserer Silbernen Hochzeit. Es ist schön, daß Ihr alle gekommen seid mit uns zu feiern. Awer kikt ju mal üm. Was seht Ihr? Ick willt ju seggen. Unsere lieben Nachbarn haben’s möglich gemacht, daß wir zusammen sein können, ohne die wäre es nicht gegangen. – Wo hätt‘ ich hergenommen all die Betten un die Stühl un de Töllers un das viele Essen? – Ich hätt’s nich gehabt. Un meine Nachbarn, das sind lauter Christen un gute Menschen. – Und ich will Euch sagen, wenn Ihr heert, daß die Juden un de Christen nich leben überall in Frieden – nu – dann denkt an heute, wo auch keiner von se denkt an Christ un Jüd. – Se denken nur an de Minschen. Wenn Ihr lebt as Minschen, nu, dann findet Ihr Minschen. – Mutter und ich freien uns, daß Ihr seid da bei uns, aber bei meinen freundlichen Nachbarn bedank ich mich für alles, was se heit getan haben Gutes an uns. – Und darum mag geben der liebe Gott, daß se auch feiern ihre silberne Hochzeit, un gesund soll’n se sein und leben noch viele, viele Jahr“.
Was seid ihr für gute Menschen!
Von uns rugbeenigen Jungs harrn sik tein oder twölf up de Trepp stellt. Wi möken de Tafelmusik, dat heet, wi sung uns Scholleeder dreestimmig: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Ich hatt‘ einen Kameraden“ und „Das Wandern ist des Müllers Lust“ un wat wi so wussen.
Abends war bi Levertopf Ball. Een von uns Jungs speel de Handharmonika und de Husdehl wär grot genug, dat twee Poor mit eenmal danzen kunn’n, wennse sik in achtnehmen. De Olln seten in de Stuw, de Jüngeren vor de Husdör und bannig schickert wurd: Brunbeer (för de Frunslüd mit Zucker), ok woll mal’n Schnaps, und de Kinner kregen Win, dat wär’n beten Johannisbeersaft mit veel Water un Zucker. So wurd dat de schönste Dag, den Levertopf mit sin Fru verlewt harr. Un beid güng von een Nahber to’n annern un schüddelten de Hänn, un de Tranen leepen ehr öwer de Backen, un denn swögten se: „Kinner, is dat schön. Wer hätt das gedacht! Was seid ihr für gute Minschen, was seid ihr für Minschen!“
Un een, denn de Rührung ok all in de Gurgel steeg, würd so`n beten grow un sagte: „Je, Schmul“ – Schmul war die Abkürzung von Samuel -, „wat büs du denn anners as’n Minsch ! Minschen sünd wi all un dorüm fiert wie mit di“.
Alle diese sind dahingegangen, sanglos und klanglos. Sie haben ihre Namen nicht mit ehernem Griffel in das Buch der Weltgeschichte geschrieben, sie machten nicht einmal für ihre kleine Vaterstadt die Geschichte. Aber der breite, sichere Grund waren diese einfachen Menschen, auf dem sich die Pyramide des Reiches aufbauen konnte“.
Dr. Peter Guttkuhn
Eine Lübecker deutsch-jüdische Geschichte, die ungeahnte Emotionen freisetzt! Derart unverkrampft, solidarisch und natürlich gingen besonders die einfachen Leute miteinander um. Die meisten der Lewertoff-Kinder und Enkel wurden von den Nazis ermordet.
hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses sehr beieindruckenden Beitrages.
Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.









