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Dr. phil. Peter Guttkuhn: „Als Lübeck „übergeleitet“ wurde“

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Auch heute setzen wir in hier-luebeck die Vorstellung der Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historikers Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ fort. Heute: „Als Lübeck „übergeleitet“ wurde“. Sagt Ihnen die Jahreszahl 1937 vorab etwas dazu?

Foto: Dr. Peter Guttkuhn
Dr. phil. Peter Guttkuhn
Als Lübeck „übergeleitet“ wurde

Die einen – und das waren die Regierenden – sprachen von „Überleitung“, „Umgemeindung“ oder gar davon: „Lübeck kehrt heim zu Schleswig-Holstein!“ (wie der „Lübecker Volksbote“ vom 31. März 1937). Die anderen – und das waren die Regierten – sprachen von „Verlust der Freiheit“, „Raub der Selbständigkeit“ oder „später Rache des Diktators“, weil Hitler während seiner „Kampfzeit“ auf lübeckischem Staatsgebiet nicht hatte reden dürfen.

Das Reichsgesetz vom 26. Januar 1937 befahl kurz und bündig: „Das Land Freie und Hansestadt Lübeck wird aufgelöst; die Stadt Lübeck wird als kreisfreie Gemeinde in den preußischen Regierungsbezirk Schleswig und in die preußische Provinz Schleswig-Holstein eingegliedert“. Hitler hatte die Lübecker zuvor weder benachrichtigt noch befragt. Damit erhielt die Hansestadt ab 1. April 1937 den Charakter einer Gemeinde. Und das war durchaus kein Aprilscherz.

Zum lübeckischen „Uberleitungskommissar“ wurde der NS-Senator Dr. Hans Böhmcker (1899-1942) bestimmt; als dessen Sachbearbeiter fungierte Regierungsrat Gerhard Schneider (1904-1988). Die Überleitungsverhandlungen fanden am 16. und 17. Februar 1937 im Lübecker Rathaus statt. Es ging hauptsächlich um finanzielle Fragen und um das künftige Verhältnis der Hansestadt zum Provinzialverband. Vorsichtig, aber bestimmt versuchten die lüb’schen Unterhändler bei ihren preußischen Verhandlungspartnern das herauszuholen, was eben noch zu erlangen bzw. zu erhalten war.

Zwar durften preußische Lehrer bereits nach Vollendung des 62. Lebensjahres in den Ruhestand treten – lübeckische mußten bis zur Vollendung ihres 65. im Dienst verharren. Doch in Preußen galt Pflichtstundenzahl 30, in Lübeck nur 29 Wochenstunden pro Lehrperson. Außerdem lag die Volksschul-Klassenfrequenz in Lübeck mit 38,5 Schülern pro Klasse wesentlich günstiger als im Staate Preußen.

Über diese Themen und vieles mehr sprachen im Rathaus die neun Herren aus Berlin, Schleswig und Lübeck. Und dann nahten die Tage, da die alte Hansestadt tatsächlich auf Preußen übergeleitet werden sollte.

Dem preußischen Ministerpräsidenten freilich, dem Generalobersten Hermann Göring (1893-1946), dem war das Ereignis zu geringfügig, um persönlich aufzutreten. Er übertrug diese Aufgabe dem Reichs- und preußischen Minister des Innern Dr. Wilhelm Frick (1877-1946). Und Frick befahl einen feierlichen Staatsakt, „der der Bedeutung dieser Neuordnung im Einheitsreich gerecht wird“.

An der Trave wurde emsig vorbereitet – sollten doch die NSDAP-Spitzenmänner der Provinz Schleswig-Holstein allesamt geehrt, beschenkt oder befördert werden.

So begab sich denn u. a. der Präsident des Lübecker Senats, der Bürgermeister Dr. med. dent. Otto-Heinrich Drechsler (1895-1945), ins hiesige St.-Annen-Museum, um die Nachbildung einer Hansekogge zu begutachten. Dieselbe wollte er dann zwei Tage später seinem um ein Jahr jüngeren zukünftigen Chef, dem Oberpräsidenten und Gauleiter von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse (1896-1964), anläßlich des Staatsaktes als Ehrengeschenk überreichen.

In Tag- und Nacht-Arbeit wurde das Präsent restauriert und übergabefertig gemacht. Die Stadtkasse überwies später für Überholung und Beschaffung eines Ersatz-Modells dem St.-Annen-Museum den Betrag von 200,- RM.

Am Mittwoch, dem 31. März, fand um 12.30 Uhr die letzte Sitzung des Senats der Freien und Hansestadt Lübeck in der Kriegsstube des Rathauses statt. Draußen war ein Doppelposten der Schutzpolizei aufgezogen. Drinnen, in der Kriegsstube, saßen 13 Männer – die Parteiuniformen mit der Hakenkreuzbinde überwogen.

Der ehemalige Zahnarzt Drechsler aus Schwerin ernannte Hermann Göring zum Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Lübeck; dem Dr. Frick war dasselbe bereits drei Wochen zuvor, anlässlich seines 60. Geburtstags, widerfahren; Göring ernannte Otto-Heinrich Drechsler zum Preußischen Staatsrat. Drechsler ernannte den Dr. Böhmcker zum Ersten Beigeordneten der Hansestadt Lübeck – mit der Berechtigung, die Amtsbezeichnung „Bürgermeister“ zu führen. . .

Jedenfalls wurden um 18.30 Uhr die Reichsdienstflaggen in Lübeck feierlich eingeholt und zwei Stunden später der Kreis Lübeck der NSDAP durch den Gauleiter von Mecklenburg-Lübeck, den Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt (1898-1948), ebenso feierlich an Hinrich Lohse übergeben.

Der 1. April 1937 war ein grauer, gelegentlich regnerischer Tag. Vor dem Rathausportal hisste man um 8 Uhr die Reichs- und Nationalflagge neben der lübeckischen Fahne. Um 11.25 Uhr traf Wilhelm Frick auf dem Hauptbahnhof ein. Im offenen Wagen fuhr man ihn durch die Holstenstraße, die tags zuvor vom Bauamt mit Hakenkreuz- und weiß – roten lübeckischen Fahnen geschmückt worden war.

Um 12 Uhr begann der Festakt im Audienzsaal des Rathauses: vor 210 geladenen Gästen und mit Rienzi-Ouvertüre am Anfang, Deutschland- und Horst-Wessel-Lied am Ende. Der Reichssender Hamburg übertrug live. Die Städtischen Werke mußten ihre Lautsprecheranlagen kostenlos zur Verfügung stellen, um den Staatsakt auf den Markt und die Breite Straße zu übertragen.

Otto-Heinrich Drechsler war nun erster „Oberbürgermeister des preußischen Stadtkreises Hansestadt Lübeck“, der am 1. April 1937 genau 144.100 Einwohner zählte. Am gleichen Tag wurden auch alle anderen lübeckischen Staats-lnstanzen übergeleitet. Das Landgericht Lübeck z. B., es wurde in den Bezirk des Oberlandesgerichts Kiel übernommen. Und zur Übernahme war Dr. Roland Freisler (1893-1945), Staatssekretär im Reichsjustizministerium, nach Lübeck gekommen.

Nachdem Wilhelm Frick von 17 bis 18 Uhr rasch auch noch in Eutin die Übernahme auf Preußen durchgeführt hatte, fand um 20.30 Uhr eine Massenkundgebung auf dem Lübecker Markt statt – mit Fackelzug, allen Partei-Formationen und völkischer Rede, versteht sich. Die Städtischen Werke waren verpflichtet worden, in der Zeit von 20 bis 23 Uhr die Marienkirche taghell anzustrahlen. Um 22.50 Uhr hatte Frick die Hansestadt wieder verlassen.

Der seit dem 24. April 1933 als Gesandter und Beauftragter des Senats bei der Reichs- und Preußischen Staatsregierung in Berlin tätige Dipl.-Ing. chem. Werner Daitz (1884-1945) zog sich am Überleitungstag in Lübeck eine Erkältung zu, erkrankte an Kopfgrippe und reiste am 19. April zur Nachkur an den Lido und nach Dubrovnik. Reichsamtsleiter (der NSDAP) Daitz residierte anschließend als Leiter der „Verbindungsstelle für die Provinz Schleswig-Holstein in Berlin“ – dazu war die Lübecker Vertretung seit 1. April 1937 aufgewertet worden -, nach wie vor im Lübecker Gesandtschaftsgebäude (Berlin W 35, Tiergartenstraße 13), das erst zum 1. April 1938 an Preußen überging.

So war nun Lübeck ganz und gar preußisch geworden: hatte seine Selbständigkeit verloren und seine 19 Landgemeinden mit insgesamt 3.440 Einwohnern, hatte 2. 821,17 RM für Repräsentationskosten während der Überleitungsfeierlichkeiten aufwenden müssen, was noch auf das Rechnungsjahr 1936 verbucht wurde – aber Preußen übernahm auch zwei Drittel der lübeckischen Staatsschulden.

hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.

Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.