Wissenschaft

Dr. Peter Guttkuhn: „Abbele und Malchen – Lübecks erste jüdisch-christliche (Liebes-)Ehe“

Dr.-Guttkuhn
Am vorigen Sonntag haben wir mit der Vorstellung von Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historiker Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ in hier-luebeck zu Dr. jur Alfred Cantor begonnen. Die Resonanz darauf hat gezeigt, dass großes Interesse an dieser Reihe besteht. Heute wird mit Dr. Peter Guttkuhns Publikation „Abbele und Malchen – Lübecks erste jüdisch-christliche (Liebes-) Ehe“ fortgesetzt.

Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn
Zunächst zu Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.

„Abbele und Malchen –
Lübecks erste jüdisch-christliche (Liebes-)Ehe“

Der Lübecker Kaufmann Eisak Jacob Schlomer (1845-1914) erzählt in seinen „Erinnerungen aus dem ‚alten Moisling‘ von 1822-1860“ unter anderem auch die anrührende Liebesgeschichte von dem gesetzestreuen Juden Abraham Levy – dem Abbele – und der evangelisch-lutherischen Christin Amalia Levens – dem schönen Malchen:

Der Moislinger Arzt und Apotheker Dr. Wilhelm Levens (1803-1859) „hatte eine sehr hübsche Schwester Malchen, in die sich der Abbele Levy sterblich verliebt hatte; auch sie wollte ihn absolut heiraten, aber der Doktor bestand darauf, daß er Christ werden müßte, sonst gab er seine Zustimmung nicht. Am Gründonnerstag [1845] ließ Abbele sich in der Marienkirche zu Lübeck taufen; dies wurde sehr rasch ruchbar in Moisling, und als mein sel. Großvater ihm am Charfreitag in Lübeck auf dem Markt begegnete und ihn fragte: „Was hast Du gemacht, Abbele?“ antwortete er: „Rebbe Mottche, wenn Sie wüßten, was das für eine Narrischkeit ist, täten Sie es auch“.

Ob nun Narrischkeit oder Skandal, mésalliance oder ticket d’admission in die bürgerliche Ständegesellschaft des evangelisch-lutherischen lübeckischen (Stadt-)Staates – das kam auf den Standpunkt des Betrachters an. Fest stand, daß es sich bei dieser jüdisch-christlichen Liebesheirat um einen bislang einmaligen Vorgang handelte, sowohl in Lübeck als auch in Moisling. Denn Menschen, die sich zum jüdischen Glauben bekannten, galten in der freien Hansestadt Lübeck als rechtlose Fremde, die in ihrem dörflichen Moislinger Getto bestenfalls geduldet wurden.

Es hieß (ganz amtlich): Juden lähmen den Handelsbetrieb der Protestanten, untergraben allen Wohlstand der christlichen Bürger und Einwohner, demoralisieren die Kaufleute, insonderheit die Krämer, Manufakturisten, Kleinkaufleute. Ihnen dürfe unter keinen Umständen Wohnrecht, Handels- und Gewerberecht sowie das Recht auf Erwerb von Grundeigentum gewährt werden; vor allem aber könnten sie nicht zum Bürgerrecht zugelassen werden.

„Lübeck ist ein christlicher Staat. Nichtchristliche Menschen: Muselmänner, Feuer-Anbeter und namentlich Juden sind der Aufnahme in das hiesige Bürgerthum und der Erwerbung solcher bürgerlicher Rechte unfähig“, lautete z. B. das Fazit eines Gutachtens des Rechtsanwalts und Niedergerichts-Prokurators Dr. Paul Christian Nicolaus Lembke (1760-1848) vom 2. Dezember 1840 zu der Frage, „ob zünftige Amtsmeister angeweist“ werden dürften, „Judenknaben in die Lehre zu nehmen“, was bis dato in Lübeck völlig ausgeschlossen war.

Dementsprechend besaß auch der jüdische Handelsmann Abraham Joseph Levy aus dem Lübecker Landgebiet keine bürgerlichen Rechte. Er war am 11. April 1807 im lübeckischen Moisling geboren. Seine Eltern, Joseph Levy und Frau Rahel geb. Meyer, lebten seit langem bereits im Dorf. Man hausierte im Lauenburgischen, Holsteinischen und im Mecklenburgischen. Die Levys waren fromme und gesetzestreue Juden, aktive Mitglieder der orthodoxen Gemeinde. Besonders die Entwicklung der 1837 gegründeten jüdische Elementarschule lag ihnen am Herzen. Als sein älterer Bruder Moses Joseph Levy am 27. Januar 1844 gestorben war, ließ sich Abraham kurz darauf an des Bruders Stelle zu einem der drei Schulvorsteher wählen. Zur gleichen Zeit wuchsen dem Abbele Sehnsucht und Liebe zu jener vollreifen, leider Gottes aber evangelisch-lutherischen Schönheit, Malchen.

Amalia Christina Luise Maria Levens war ebenso wie Abbele am 11. April in Moisling geboren, allerdings fünf Jahre früher, 1802, noch zu königlich-dänischer Zeit. Sie war das erste Kind des Chirurgen Joachim Carl Levens (1759-1830), der vier Jahre zuvor die Jungfrau Magdalena Margaretha Link, ebenfalls Chirurgentochter, in der Geniner Kirche geheiratet hatte. Hier wurde Amalia am 19. April getauft, später auch konfirmiert. Dann schweigen die Quellen über das Leben der schönen Amalia Levens aus dem kleinen jüdisch-christlichen Flecken am Zusammenfluß von Trave und Stecknitz, der Domäne außerhalb der Landwehr, Landwehr-Bezirk Mühlentor, Kirchspiel Genin. Nichts offenbaren sie über das schicksalhafte Jahr 1844.

Doch um die Mitte des darauffolgenden Jahres kommt – vorerst – rätselhaftes Tempo in die Aktionen. Es begann damit, daß am vierten Sonntag nach Trinitatis, am 15. Juni 1845, der Moislinger Jude Abraham Joseph Levy mit der christlichen Taufe in der Kirche St. Marien Mitglied der Lübecker evangelisch-lutherischen Gemeinde wurde. Abbele erhielt den Namen Adolph Johannes Levy. Taufzeuge war neben Dr. med. Wilhelm Levens, Malchens argwöhnisch-strengem Bruder, auch Carl Johann Friedrich Burghard Unruh, der Pächter des Moislinger Hofes. Sogleich erwarb Adolph in Lübeck ein Haus und ließ sich in die Zunftrolle der Krämer-Kompanie eintragen. Das Wette-Aktuariat, die Gewerbepolizei-Behörde, bescheinigte ihm, daß er zum Bürger dieser Stadt angenommen sei.

Am Sonnabend, dem 21. Juni 1845, begab er sich zur Rats-Kanzlei: „Es erschien der hiesige Krämer Adolph Johannes Levy, in der Braunstraße wohnhaft und gab zu vernehmen: Er sey gewilliget, sich allhier mit Amalia Christina Luise Maria Levens ehelich zu verbinden, erbitte sich daher den erforderlichen Proclamationsschein“.

Gegen eine Gebühr von drei Courantmark und acht Schilling erhielt er den Konsens. Nur einen einstweiligen Vorbehalt machte der Kanzlei-Sekretär Dr. Georg Wilhelm Dittmer noch: „Dem Comparenten wurde aufgegeben, sich mit seiner Braut auch in der Geniner Kirche aufbieten zu lassen und sowohl das Document der dort geschehenen Proclamation als auch den von ihm zu lösenden Bürgerbrief zu produzieren“.

Der Bräutigam eilte nach Genin, an die für Amalia bislang zuständige Kirche. Wunschgemäß bot Pastor Carl Gustav Plitt das Paar am 22. und 29. Juni auf, kündigte es ab. Ein gleiches geschah an jenem 5. und 6. Sonntag nach Trinitatis in St. Marien zu Lübeck. Sowohl Pfarrer Plitt als auch der Archidiaconus Münzenberger stellten ein entsprechendes Pastoralattest aus. Damit begab sich Levy am 30. Juni erneut auf die Lübecker Kanzlei und erhielt nunmehr den ersehnten Kopulationsschein.

Tags darauf, am Dienstag, dem 1. Juli 1845, traten Adolph und Amalia vor den Traualtar der Marienkirche. Seine Wohlehrwürden Dr. phil. Peter Hermann Münzenberger nahmen die eheliche Einsegnung vor.

Dann dauerte es volle vier Wochen, bis wir wieder von den Levys hören. Die hektische Eile war angespannter Ruhe gewichen. Mit einiger Verzögerung erschien Adolph Johannes erst am 28. Juli wieder auf der Kanzlei der Stadt Lübeck „und zeigte an: daß seine Ehefrau am 23. Juli [1845], vormittags eilf Uhr, ein Mädchen geboren habe, welches die Vornamen Annette Juliane Margaretha erhalten solle“.

Das freudige Ereignis erklärte das Aktionstempo der letzten Wochen. Die Taufe fand am 12. August in St. Petri statt. Sie wurde von dem 42-jährigen Archidiaconus Franz Ulrich Theodor Meyer vorgenommen, der neun Jahre zuvor auch den jüdischen Zahnarzt Jacob Levy aus Lübeck getauft hatte. Annette blieb das einzige Kind von Adolph und Amalia Levy. Das 43-jährige Malchen war mit ihrer Erstgeburt sicherlich ein lebensgefährliches Risiko eingegangen.

Es folgten gute Jahre für die kleine Familie. Abbele betrieb anfangs eine „Manufacturwaaren-Handlung und Cigarren-Fabrike“, brachte es bald darauf zum Seidenkrämer. Er kaufte 1848 das (Giebel-)Haus Holstenstraße 176 (heute: Nr. 18) und baute es von Grund auf um. Doch acht Jahre später hatten wohl Gesundheit und geschäftliche Erfolge den Kaufmann Adolph Johannes Levy verlassen, er mußte sein modernes, großes Haus veräußern, lebte zuletzt in der Marlesgrube, Ecke der Trave 505 (heute: Nr. 68). Hier starb er – 52-jährig – am 28. August 1859.

Witwe Malchen mußte nun Annette alleine durchbringen und erziehen – das Liebeskind glücklicherer Tage jener jüdisch-christlichen Verbindung von Moisling. Zwei Freunde des verstorbenen Vaters übernahmen die Vormundschaft für das minderjährige, hübsche Mädchen: Abbeles Taufzeuge Asmus Joachim Friedrich Matthiessen und Georg Joachim Christian Fontaine, beide erfolgreiche und bekannte Kaufleute in Lübeck, beide auch Mitglieder der Lübecker Bürgerschaft.

Gemeinsam erschienen sie am 21. April 1864 auf der Kanzlei „und baten um Ertheilung des Proclamationsscheins zum Behuf der Verehelichung ihres Mündels mit dem Assessor Karl Albert Knauff in Naumburg“. Annettes Bräutigam war der am 17. Juli 1837 in Stolp geborene Sohn des Berliner Stadtgerichtsdirektors. Welch ein gesellschaftlicher Aufstieg!

Die Prozedur für Annette Levy und Karl Knauff war im Wesentlichen die gleiche wie für Malchen und Abbele: Auf den am 21. April erteilten Konsens wurde das Brautpaar am Sonntag Rogate, am 1. Mai 1864, in der Lübecker Marienkirche abgekündigt. Die Hochzeit fand am 8. Mai im monumentalen Dom zu Naumburg statt. Elf Monate später starb die 19-jährige Tochter von Abbele und Malchen bei der Geburt ihres ersten Kindes im fernen Naumburg an der Saale. Danach verliert sich auch die Spur von Malchen.

hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.