Dr. phil. Peter Guttkuhn: Eheverbot für einen Lübecker Polizisten

Auch für den heutigen Pfingstsonntag hat der in Lübeck arbeitenden Privatgelehrte und Historiker Dr. Peter Guttkuhn in der hier-luebeck-Reihe „Sonntags-Beiträge“ eine interessante Geschichte ausgesucht, der er folgendes voranstellt: „Aus großer Ferne ein möglicher Gedanke zur Einführung des Sonntags-Textes am 11. 5. 08: Es ist Muttertag, und der Mann darf die Mutter seiner Kinder nicht heiraten…
Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn…Ich persönlich unterhalte seit nahezu 50 Jahren allerbeste Kontakte und Beziehungen zu unserer Lübecker Polizei. Konkret hier und heute zu Herrn Hüttmann und seinen Kollegen“:
Eheverbot für einen Lübecker Polizisten – Eine jüdisch-christliche Liebes- und Rechtsgeschichte
„Am Sonntagmorgen, dem 22. Oktober 1815, zitterte ein Schrei der Entrüstung durch die Stadt Lübeck; es war eine bedeutende Summe Geldes, ca. 20.000 Courantmark in verschiedenen Münzsorten, mittels gewaltsamen Einbruchs in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober aus der Stadtkasse entwendet worden“.
Wenn nun auch zu erwarten stand, daß jedermann zur Aufklärung eines Diebstahls, der ihn letztendlich selbst betraf, alles aufbieten werde, so wurden dennoch demjenigen 1.500 Courantmark Belohnung versprochen, der die Täter zur Bestrafung anzeigen würde. Dies war aber am 6. November 1815 noch nicht geschehen; vielmehr hatte man am 4. November im Lauerholz, in der Gegend des Kreuzwegs, der nach Lübeck, Wesloe und Schlutup führt, mehrere der Stadtkasse gehörige leere Geldbeutel gefunden, die ohne Zweifel mit dem Diebstahl in Verbindung standen, weshalb die Herren des Gerichts nochmals die oben genannte Belohnung in Erinnerung brachten und demjenigen wenn auch nicht die ganze Summe, so doch mindestens 300 Courantmark versprachen, welcher den oder diejenigen namhaft machen würde, der die Beutel an den erwähnten Platz befördert hatte.
Dem umsichtigen „Polizeiofficianten“ Alexander gelang es endlich, die Diebe zu entdecken; sie hießen Frommhagen, Tillack und Petersen. Das Geld wurde glücklicherweise bis auf eine unbedeutende Kleinigkeit in Gold noch vorgefunden und die Diebe zur Strafe ins Spinnhaus, das Gefängnis, abgeführt; jedoch entzog sich Petersen durch Selbstmord dieser Strafe. Die beiden andern wußten nach einigen Jahren zwar aus dem Gefängnis zu entkommen, wurden aber wieder eingefangen und abermals hinter Schloß und Riegel gebracht, wo sie später eines natürlichen Todes starben.
Auch die erneute Verhaftung der beiden Ausbrecher gelang dem tüchtigen Polizisten Alexander. Er reiste an einem Sabbatmorgen nach Eutin, wohin die Räuber sich geflüchtet hatten. Die zu deren gefesselter Überführung nach Lübeck benötigten Hand- und Fuß-Eisen brachte er sogleich mit. Das erfahren wir von dem berühmten Lübecker Rabbiner Dr. Salomon Carlebach (1845-1919), dem’s „die selige Frau Nathan“ aus Eutin erzählte. Carlebach meinte, der Polizeidiener Alexander „soll ein sehr kluger, findiger, den Verbrechern gefährlicher Kopf gewesen sein“.
Hirsch Alexander war 1790 im königlich holsteinisch-dänischen Flecken Moisling südwestlich von Lübeck geboren. Über seine Familie wissen wir nichts, nur daß er einen gut zehn Jahre älteren Bruder hatte, der mit der Mutter Anfang 1811 von Moisling nach Lübeck übersiedelte. Hirsch Alexander war Jude, Mitglied der dörflichen Moislinger orthodoxen Gemeinde. Und wahrscheinlich ist er früh schon Halbwaise geworden. Die Mutter soll 1813 in Lübeck gestorben sein. Der junge Mann ging nach Schweden, um als Soldat seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Zu Beginn des Jahres 1811, nachdem Lübeck dem französischen Kaiserreich einverleibt worden war, kehrte er an die Trave zurück und trat als Stellvertreter für den Sohn eines hiesigen Bürgers in französische Militärdienste. Bei dem wehrunwilligen jungen Lübecker handelte es sich um Gustav Joachim Hoyer (1792-1841), den Sohn des Leihhausverwalters in der Aegidienstraße. Ende des Jahres 1813 traf Hirsch Alexander unversehrt wieder in Lübeck ein. Am 1. Januar 1814 wurde er von der Stadt als Polizeidiener eingesetzt, am 1. April 1814 „in Eid genommen“, d. h. fest angestellt.
Ein beispielloser, bislang einmaliger Vorgang in der freien Stadt Lübeck! Einem Juden wurde ein staatliches Amt übertragen, die Position eines von fünf Polizeidienern, also Polizisten im Stadtstaat. Man bedenke: Die jüdischen Bewohner des lübeckischen Staatsgebiets galten als geduldete Fremde, sie durften weder Grund- noch Wohneigentum erwerben, besaßen weder Handels- noch Gewerberechte, litten unter Hochzeits- und Leichengeldern, unter dem „Zungengeld“ und dem „Judenleibzoll“, was bedeutete, daß Moislinger Landjuden, auch wenn sie nur für Stunden die Stadt betreten wollten, erhebliche Eintrittsgelder am Holstentor zu entrichten hatten. Juden durften das Bürgerrecht nicht erwerben, auch nicht in der Stadt übernachten bzw. wohnen, einen zünftigen Beruf weder erlernen noch ausüben. Sie galten als nicht bildungsfähig, verdorben und unmoralisch, evangelisch-lutherischer Zivilisation und deren Werteskala unwürdig und gänzlich ungeeignet.
Bedeutendster Vertreter dieses lübeckischen Antijudaismus‘: der Jurist und Senator Dr. Johann Friedrich Hach (1769-1851), der sowohl auf dem Wiener Kongreß als auch dem Frankfurter Bundestag jahrelang in Wort und Schrift die lübeckischen Juden erniedrigte, beleidigte und bekämpfte. Grund und Ziel seines Übelwollens: „Der Jude ist überall beschränkt, weil er Jude ist … Die Absicht aller Beschränkung … geht offenbar dahin, möglichst zu verhindern, daß ihre Zahl sich nicht vermehre … Begünstigen kann keine Regierung diesen Glauben, so lange sie einen christlichen Staat beherrscht; wünschen kann keine Regierung, daß dieser Glaube sich verbreite … Die Immoralität der Juden im Ganzen ist … nicht zu leugnen“. Hach, Bürgerschaft und Senat blieben dabei, auch wenn sich die Höfe von Berlin, Wien und St. Petersburg 1815 und 1816 vielfach, wortreich und energisch für die Bürger- und Menschenrechte auch der lübeckischen Juden einsetzten.
Hirsch Alexander, der jüdische lübeckische Stadtpolizist, hat sein Judentum zu keiner Zeit geleugnet und niemals verlassen. Weder vor noch nach der Übernahme des öffentlichen Amtes. Dieser tüchtige Lübecker Lokalpatriot machte einen nachhaltigen Eindruck auf die protestantische Obrigkeit, wurde wegen seines außergewöhnlichen, lebenslangen dienstlichen und privaten Engagements für die Stadt zu einem jüdischen Gegenbeispiel, das alle die pauschalen Vorurteile gegenüber seinen Glaubensgenossen Lügen strafte.
Kaum wieder in Lübeck und ernannt, da verliebte er sich in die evangelische Anna Catharina Reimers, Tochter des Lübecker Bürgers Hans Peter Reimers aus dem Stecknitzfahrergang. Eine bescheidene Bleibe fand das junge Paar in der Hartengrube, wo ihm am 11. September 1815 das erste gemeinsame Kind – Rosina Maria Loretta Louisa – geboren wurde. Nach neun Tagen ließ man im Dom taufen. Und vier Wochen darauf begann die erfolgreiche Hatz auf die drei Geldräuber.
Das zweite Kind – Carl Marcus Anton Peter, der ein tüchtiger Musikus wurde – kam zwei Jahre danach zur Welt, in einer Mietwohnung der Lichten Querstraße. Dann zog die Alexander-Familie in das (Erker-)Haus des befreundeten Polizeidieners Johann Hinrich Brandt, Fegefeuer 895 (heute: Nr. 25), das sie 1820 käuflich erwarb.
Es begannen turbulente Jahre für den rastlosen Polizeidiener Hirsch Alexander und seine kontinuierlich wachsende Familie, seine kontinuierlich wachsenden finanziellen Schwierigkeiten. Auch wenn das Konkubinat, in dem er mit Anna Catharina Reimers lebte, von Seiten des Staates nicht nur geduldet, sondern sogar förmlich anerkannt wurde. 1822 mußte er das Haus im Fegefeuer veräußern, erwarb das Giebelhaus Fischergrube 370 (heute: Nr. 42), das er ein Jahr später bereits wieder verkaufen mußte. Mit einem weiteren Haus im Ellerbroock erging’s ihm genauso. Bis 1824 war die Zahl der Kinder auf sechs angewachsen, das spärliche Gehalt aber gleich geblieben. Zukunftsangst begann sich auszubreiten.
Da richtete der Jude Hirsch Alexander den Antrag an den Senat, die evangelisch-lutherische Mutter seiner Kinder heiraten zu dürfen. Auch das ein einmaliger, bislang beispielloser Vorgang in Lübeck. Der Senat beauftragte seine beiden Syndici, ein ausführliches und grundsätzliches Gutachten zu erstellen. Dr. jur. Carl Georg Curtius (1771-1857) und Dr. jur. Anton Diedrich Gütschow (1765-1833) sahen keine rechtliche Möglichkeit, eine Ehegenehmigung zu erteilen. Mischehen wurden erst seit 1852 erlaubt. Entsprechend abschlägig fiel das Senats-Dekret vom 22. Dezember 1824 aus:
„Auf hiebevoriges Suppliciren des Israeliten Hirsch Alexander um Erlaubniß zur Verheirathung mit der Christin Catharina Reimers, auch infolge Decrets vom 04. 12. 1824 erstattetes Gutachten der Herren Syndicorum, hat Ein Hochedler Rath decretirt und den Herren des Stadtgerichts aufgetragen, dem als Polizeydiener angestellten Supplicanten anzudeuten, daß seinem Gesuche nicht statt gegeben werden könne“.
Das Eheverbot war ein außergewöhnlich harter Schicksalsschlag für den gewissenhaften städtischen Polizisten. Am 3. November 1825 starb einer seiner Söhne. Daraufhin erkrankte er selbst für längere Zeit, brachte die Familie dadurch in tiefe Not und große Schuldenlast. „Die Herren Prätoren“ bewilligten 1826 auf ein Gesuch Alexanders 100 Taler zu dessen Unterstützung. Im Januar 1827 erwarb er das Haus Königstraße 887 (heute: Nr. 52), „beim alten Schrangen“. Am 20. Juli 1829 wurde hier das achte und letzte Kind geboren. Hirsch Alexander rackerte sich ab für die endlich neunköpfige Familie. Alle sieben überlebenden Kinder – zwei Söhne und fünf Töchter – wurden evangelisch-lutherisch getauft, konfirmiert, schulisch und beruflich ausgebildet.
Da erkrankte er 1837 schwer, lag vier Monate danieder. Die Arzt- und Medikamentenkosten türmten sich, die Schuldenlast wuchs. Bedrohlich verschlechterte sich die soziale Lage der Alexander-Familie. Deshalb richtete der Polizeidiener am 1. April 1839 – dem 25. Jahrestag seiner Festanstellung durch den Stadtstaat Lübeck – ein Bittgesuch an den Senat.
Seine Vorgesetzten, die evangelisch-lutherischen „Herren des Stadtgerichts“, erklärten, daß dessen „Finanzen wohl niemals gehörig geregelt gewesen. Seine Verbindung mit einer Christin, welche sieben Kinder zur Folge gehabt, mag wesentlich dazu beigetragen haben, da Supplicant, bey einer mäßigen Amts-Einnahme, gegen diese Kinder alle Pflichten eines treuen Familienvaters redlich erfüllt, ja, für ihre Erziehung wohl mehr verwendet hat, als seine Verhältnisse es eigentlich gestatteten“. Und zu Alexanders dienstlicher Beurteilung bemerkte die Obrigkeit: „Der Supplicant ist jetzt seit 25 Jahren im Dienst. Seine Brauchbarkeit als Policeydiener ist anerkannt. Sein Dienst-Eifer bedarf – was Officianten seiner Art wohl nicht gar häufig nachgerühmt werden kann – auch jetzt noch mehr des Zügels als des Sporns“.
Aufgrund dieser positiven Äußerungen des Lübecker Stadtgerichts, seines Arbeitgebers, beschlossen sowohl der Senat als auch die Bürgerschaft, dem Bittsteller, der 750 Mark Schulden hatte, 300 Mark als Gratifikation aus dem staatlichen Reservefonds zufließen zu lassen. Die verbleibende Summe von 450 Mark solle Alexander als unverzinslicher Vorschuß aufs Gehalt gezahlt werden – gegen Hinterlegung seiner Lebensversicherungs-Police in Höhe von 1.500 Mark. Doch bereits einen Monat vor Eintreffen des Geldes mußte er das Haus beim alten Schrangen verkaufen; am 22. Mai 1840 zog er mit seiner großen Familie als Mieter in eine kleine Wohnung des Hauses Königstraße 697 (heute: Nr. 10), „bei St. Jacobi“.
Am 21. Dezember 1842 erschien auf der Kanzlei der Stadt Lübeck Abraham Meyer Stern, ältester Sohn des vorletzten Lübecker Schutzjuden, „und zeigte an, daß Hirsch Alexander, Polizey-Diener, 52 Jahre alt, aus Moisling gebürtig, unverheyrathet, am 20. Dezember 1842, nachmittags zwei Uhr, in seiner Wohnung in der Königstraße belegen, verstorben sey“.
hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.
Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.
