Dr. phil. Peter Guttkuhn: Zur Geschichte der Ernestinenschule Lübeck
Auch heute setzen wir in hier-luebeck die Vorstellung der Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historiker Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ fort. Titel: „Ernestinenschule zu Lübeck: Von der Lehranstalt für die „mittlere Bürgerklasse“ zum Gymnasium für Mädchen und Jungen“ Foto Dr. Peter Guttkuhn
Vorab schreibt er dazu: „Ob nun die Pröpstin oder die Stadtpräsidentin – sie alle, die etwas auf sich hielten und eine bestmögliche Ausbildung wünschten, waren „Ernestinen“, erfolgreiche Schülerinnen der Ernestinenschule zu Lübeck.
Dr. Peter Guttkuhn
Ernestinenschule zu Lübeck: Von der Lehranstalt für die „mittlere Bürgerklasse“ zum Gymnasium für Mädchen und Jungen
„Es ist durchaus notwendig, dass die künftige Hausfrau deutlich und richtig schreiben lerne, wäre es auch nur, um ihre Wäschezettel selbst zu verfertigen und ihre Ausgaben gehörig anzuschreiben“. So lautete einer der ungezählten zweckmäßig-nützlichen Beweggründe des Plans zu einer Lehranstalt für die weibliche Jugend.
Er entstand in der Kaiserlich Freien und des Heiligen Römischen Reiches Stadt Lübeck im Jahr 1804. Entworfen und zielsicher verfolgt von vier sozial engagierten, aufgeklärt-praktischen Philanthropen, die sehr wohl Realisten waren: dem Prediger an St. Petri und späteren Senior Ministerii Hermann Friedrich Behn (1767-1846), dem Tabakfabrikanten Jacob Wiljemars (1756-1814), dem Weinhändler Ernst Hermann Kurtzhals (1759-1830) und dem Gemischtwarenhändler Julius Raspe (1762-1807).
„Die Rechenkunst ist ebenfalls eine jedem weiblichen Geschöpfe der Bürgerklasse ganz unentbehrliche Wissenschaft, wäre sie auch nur auf die allernötigsten Berechnungen des Hausstandes eingeschränkt, so ist es doch wahr, dass besonders durch Geschicklichkeit im Kopfrechnen mancher Übervorteilung oder Unwissenheit des Verkäufers entgegen gearbeitet wird“.
Die Lübecker Wirtschaft boomte seit der Französischen Revolution, den nachfolgenden Koalitionskriegen und der Blockade der Mündungen von Elbe und Weser (1803 ff). Kaufleute und Handwerker forderten immer dringender eine zeitgemäße, moderne Schulbildung, die die zahlreich vorhandenen Bet-, Schreib- und Leseschulen – so genannte Winkelschulen – bei weitem nicht zu leisten vermochten.
„Der Wunsch wird immer allgemeiner und die Notwendigkeit täglich lebhafter empfunden, Lehranstalten zu besitzen, in denen die weibliche Jugend nicht der Willkür einzelner Personen überlassen ist, sondern wo sie unter einer sorgfältigen Aufsicht mit beständiger Rücksicht auf ihr Geschlecht und auf ihre wahrscheinlich künftige Bestimmung stufenweise unterrichtet und zur Erfüllung ihrer künftigen Pflichten zweckmäßig vorbereitet wird“.
Es ging darum – gleichviel ob im Sinne eines humanitären Christentums oder aus dem Geist der Aufklärung und Toleranz -, sich aus Nützlichkeits- bzw. Zweckmäßigkeitserwägungen einzusetzen für eine große Gruppe von Mitmenschen, die bislang benachteiligt und vernachlässigt worden war: die jungen Mädchen des Stadtstaates, die der „mittleren Bürgerklasse“ – dem Mittelstand – angehörten.
„Für unsere reiche Bürgerklasse und für einen Teil unserer ärmeren Einwohner ist in dieser Hinsicht durch die trefflichsten Einrichtungen gesorgt worden, aber die übrigen Stände unserer Stadt sehen sich aller Gelegenheit beraubt, um ihren Töchtern einen zusammenhängenden und den Verhältnissen, in welche sie einst treten werden, entsprechenden Jugendunterricht darzubieten. Für sie bleibt eine gut geordnete, durch strenge Aufsicht geleitete Töchterschule, der sie ihr volles Zutrauen schenken dürfen, ein dringendes Bedürfnis“.
Der Lübecker Senat hatte sich in der Mädchenbildung bislang gar nicht engagiert und überließ dieses Feld auch weiterhin der Privatinitiative, d. h. der evangelisch-lutherischen Kirche bzw. der 1789 gegründeten ‚Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit‘. Besonders in der Anfangsphase der „Gemeinnützigen“ arbeiteten zahlreiche Theologen im Rahmen dieser Gesellschaft mit: Sie gründeten 1797 die „Industrieschule für dürftige Mädchen“ und kümmerten sich um eine Ausbildung privat tätiger Lehrer. Auch der fromme Rationalist Behn, der tonangebende Initiator bei der Gründung der Ernestinenschule, orientierte sein soziales Wirken an der Realisierung christlicher Maximen im öffentlichen Raum.
„Der Mittelstand, der wohlhabende Handwerker, der kleinere Kaufmann, der mit einer starken Familie gesegnete Hausvater, der wegen der hohen Kosten seine Mädchen in den vorhandenen Instituten nicht ausbilden lassen konnte“ – das war die anvisierte Klientel der privaten Schule. Entsprechend favorisierte oder verwarf man verschiedene Unterrichtsfächer: „Die Zeichnenkunst, fremde Sprachlehre und das Sticken sind mehr für höhere Stände“. Der weibliche Mittelstand müsse sich – was die Handarbeiten betrifft – hauptsächlich im Nähen, Stricken und Spinnen betätigen. Darin solle jedes Mädchen nach höchster Vollkommenheit streben:
„Wir wissen, dass in unserer Stadt sehr viele Frauenzimmer bloß durch die nötigsten Arbeiten im Nähen, Marken [auf Leinwand und Drell], Stopfen und Stricken ihren guten Unterhalt, und manche, welche es darin zur höchst möglichen Vollkommenheit in diesen Arbeiten brachten, denselben sehr reichlich verdienen“.
Neben diesen „Arbeitsunterricht“ trat der so genannte „Lehrunterricht‘, bei dem es um die „Wissenschaften“ ging: Religion, Deutsch, Rechnen, Natur- und Gesundheitslehre, Erdkunde, Naturprodukte, deren Bearbeitung und ökonomisches Interesse, Naturgeschichte, Mythologie, Weltgeschichte sowie Französisch. Letzteres durfte bis 1845 allerdings nur freiwillig und zusätzlich belegt werden, musste „Nebensache“ bleiben. Denn aus der Gründungs-Ideologie der Schule – eine Anstalt für den Mittelstand zu sein – ergaben sich Standesrücksichten: Die Ernestinenschule sollte keine „vornehme Bildung der feinen sozialen Welt“ vermitteln.
Und in der Tat belegte die Berufsschichtung der Eltern – zumindest die der ersten 12 Jahre -, dass die Bedarfsanalyse der Planer und Gründer im Wesentlichen zutreffend gewesen war: 144 Kaufleute, 18 Lehrer, 13 Makler, 13 Weinhändler, 12 Handwerker, 11 Pastoren, 11 Gastwirte, 11 Schiffer usw. hatten ihre fünf- bis 14-jährigen Töchter der neuen privaten Lehranstalt anvertraut.
Ihren Namen erhielt die Schule, nachdem der Mitbegründer, Vorsteher und gemeinnützige Stifter, Ernst Hermann Kurtzhals, sein neu gebautes Haus, Königstraße Nr. 77, samt Garten und allem Zubehör einer schulunterhaltenden Stiftung übereignet und die Vorsteherschaft beschlossen hatte, dass das Haus mit dem Tag seiner Weihe, dem 19. April 1830, zum immerwährenden Gedenken an den Stifter und dessen Ehefrau, die „Ernestine“ gerufen wurde, den Namen „Ernestinenschule“ tragen solle. Einen Monat später verstarb Kurtzhals, ein dreiviertel Jahr darauf auch seine Frau, die Namenspatronin. Die Ernestinenschule indes besaß mit diesem modernen und großzügigen Stadthaus glänzende Entwicklungsmöglichkeiten.
„Der Unterricht beginnt jeden Morgen mit gemeinschaftlichem Gesang und Gebet. Er dauert im Sommer von 8 – 12 Uhr des Morgens und von 2 – 5 Uhr des Nachmittags. Im Winter fängt er erst um 9 Uhr an, und die Schülerinnen der vierten Klasse [d. h. die 5 – 8-jährigen Mädchen] kommen immer erst um 9 Uhr. Um 10 Uhr des Morgens wird eine Pause von einer Viertelstunde gemacht, in der die Schülerinnen sich erholen, auch im Sommer bei gutem Wetter in dem Schulgarten umhergehen können. Eben so wird auch des Nachmittags der Unterricht durch eine Pause unterbrochen …
Esswaren irgendwelcher Art dürfen nicht mit in die Schule gebracht werden; jede Schülerin erhält Morgens um 10 Uhr eine Semmel, wofür der Betrag am Ende jedes Quartals berechnet wird“.
Während der ersten 60 Jahre fanden jährlich zum Ostertermin allgemeine mündliche Prüfungen statt – anfangs an zwei bis drei Tagen, späterhin an einem Tag -, zu denen die Vorsteher alle Eltern und Anverwandten schriftlich einluden. An die Prüfungen und Versetzungen schloß sich die Entlassung der Konfirmandinnen an. Die Besucher konnten dabei die ausgestellten Handarbeiten, Zeichnungen und Probeschriften der Schülerinnen begutachten.
1879 begann die 32-jährige Amtszeit des sächsischen evangelisch-lutherischen Pastors Paul Moritz Hoffmann (1845-1921) als Leiter der Ernestinenschule. Er war der jüngste Schulleiter und dementsprechend derjenige mit der längsten Amtszeit: Die Ernestinenschule wurde zur zehnklassigen höheren Mädchenschule (1885), entwickelte sich von einer privaten Stiftungsschule zur „Staatlichen Höheren Mädchenschule“ (1900), richtete ein „Seminar für Lehrerinnen an mittleren und höheren Mädchenschulen“ in ihrem Haus ein (1902), holte den bekannten Schriftsteller Otto Anthes (1867-1954) als Oberlehrer ins Lehrerkollegium (1903) und bezog 1904 ein neues, großes Schulhaus in der Kleinen Burgstraße. Dadurch wurde u. a. die bedrückende Raumfrage gelöst.
Ein unbedingtes und dringendes Desideratum ist und bleibt – trotz prekärer Quellenlage – die gründliche Aufarbeitung der Zeit von 1914 bis 1945, insonderheit die der 12-jährigen NS-Zeit. Verschleiernde Begriffe und vertuschende Formulierungen wie z. B. „Im Banne übermächtiger Gewalten“ klären und erläutern nichts.
Die Ernestinenschule wurde Ende April 1945 geschlossen, zum Refugium für Flüchtlinge, anschließend in ein Lazarett umgewandelt. Am 14./15. Oktober desselben Jahres konnte sie als erste Oberschule für Mädchen im britisch besetzten Norddeutschland den provisorischen Unterrichtsbetrieb unter Leitung des pommerschen Flüchtlings Kurt Haß (1904-1989) wieder aufnehmen.
Am 1. Februar 1946 begann die Schulspeisung. Von Januar bis Ostern 1947 fiel der Unterricht wegen starker Kälte und Kohlenmangel aus. Direktor Haß führte die Schule bis 1970.
Mit dem Schuljahr 1976/77 löste die neue gymnasiale Oberstufe, die so genannte Studienstufe, das bisherige Klassensystem des 11. bis 13. Schuljahrs durch das Kurssystem ab: Wahlbereich – Pflichtbereich – Vorsemester – Semester – Prüfungssemester – Leistungs- und Grundkurse – Punktzahlen usw. waren die neuen Begriffe einer bundeseinheitlichen Konzeption.
Mit Einführung der Koedukation – 1981/82 – endete die lange und erfolgreiche Tradition der Ernestinenschule als Mädchenschule. Sie war das letzte reine Mädchengymnasium in Schleswig-Holstein und sah sich wegen rückläufiger
Anmeldungen zur Sexta zu diesem Traditionsbruch gezwungen: Die Studienstufe erforderte Dreizügigkeit, um die Wahlmöglichkeiten maximal zu nutzen.
Heute hat die Schule ca. 770 Schülerinnen und Schüler, die von 56 Lehrerinnen und Lehrern betreut werden. Man will und wird in nächster Zukunft das eigene Schulprofil, das man als verbesserungswürdig empfindet, schärfen und wohl mehr in Richtung wirtschaftliche Kompetenz positionieren.
hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.
Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.