„Todesfall wegen geschlossen“: Bayerns erster Drogenkonsumraum ist nur durchs Schaufenster zu sehen
Berlin (ots) –
Offizielle Nicht-Eröffnung mit dem Bundesdrogenbeauftragten Burkhard Blienert, Münchens Bürgermeisterin Verena Dietl und Münchner Drogenhilfeorganisationen. Appell an Landesregierung: Geben Sie den Weg frei!
Ein Pop-up-Drogenkonsumraum mitten in der Münchner Innenstadt – das geht nun wirklich nicht. Denn in Bayern ist diese Form der Lebensrettung und HIV-Prävention illegal. Deswegen bleibt der erste Drogenkonsumraum Bayerns von Anfang an zugesperrt, als unübersehbarer Hinweis auf diese versperrte Möglichkeit und Versorgungslücke.
Zu sehen sein wird er über die gesamte Zeit der Welt-Aids-Konferenz in München bis zum 22. Juli.
„Todesfall wegen geschlossen“ steht an der Tür. Und vor verschlossener Tür des Raumes in der Fraunhofer Straße im beliebten Glockenbachviertel hat die Deutsche Aidshilfe heute drei Tage vor Konferenzbeginn die offizielle Nicht-Eröffnung des Raumes bekannt gegeben.
Nur durch die Schaufensterscheibe zu betrachten ist ein voll funktionsfähiger Konsumplatz für drogenabhängige Menschen – einschließlich steriler Spritzen und Konsumutensilien, einem Notfallmedikament für Überdosierungen und einem Beatmungsgerät. Im Fenster liegen auch Rauchutensilien für Crack-Konsumierende. „Hier könnten Leben gerettet und Infektionen verhindert werden“, ist im Hintergrund wandfüllend zu lesen.
Aufforderung an die Bayerische Landesregierung und alle fehlenden Bundesländer
Die Deutsche Aidshilfe und ein breites Bündnis fordern mit dieser Aktion die bayerische Landesregierung auf, Drogenkonsumräume endlich auch in Bayern möglich zu machen. Dafür fehlt nur eine Rechtsverordnung. Bayern ist damit eines von sieben Bundesländern, die keine Drogenkonsumräume erlauben – trotz Empfehlung von WHO, den Fachorganisationen der UNO, der europäischen Gesundheitsorganisation ECDC und der European Union Drugs Agency (EUDA, EMCDDA).
Die Zahl der drogenbedingten Todesfälle ist derweil in den letzten Jahren in Deutschland kontinuierlich gestiegen (https://www.aidshilfe.de/meldung/drogentodesfaelle-2023-handeln-statt-mitleid), ebenso die Zahl der HIV-Neuinfektionen bei intravenös Drogen konsumierenden Menschen, wie das Robert Koch-Institut kürzlich mitgeteilt hat (https://www.aidshilfe.de/meldung/deutsche-aidshilfe-hiv-zahlen-zeigen-erfolge-versorgungsluecken). Bayern liegt mit 257 Todesfällen in 2023 auf Platz 3 in Deutschland. Etwa 40 Menschen infizierten sich 2023 nach Schätzung des Robert Koch-Instituts in Bayern durch intravenösen Drogenkonsum mit HIV (bundesweit 380).
Drogenkonsumräume sind keine Kunst
„Dies ist eine künstlerische Aktion, um zu verdeutlichen: Drogenkonsumräume sind keine Kunst. Drogenkonsumräume sind machbar, sie sind erprobt, und sie sind notwendig. Ob Leben gerettet und Infektionen verhindert werden oder nicht, ist eine politische Entscheidung. Bayern entscheidet sich immer noch und jeden Tag wieder dagegen“, sagte Stefan Miller vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe bei seiner Nicht-Eröffnungsrede. „Das können wir kurz vor der Welt-Aids-Konferenz im Freistaat nicht unkommentiert lassen. Unsere Botschaft: Drogenkonsumräume muss es in allen Bundesländern geben!“
Die 25. Internationale Aids-Konferenz AIDS2024, unterstützt die Aktion der Deutschen Aidshilfe, das Konferenzlogo zierte auch die Einladungen zur „Einweihung“ von Bayerns erstem Drogenkonsumraum (https://www.presseportal.de/pm/14407/5822013).
Bundesdrogenbeauftragter appelliert an Bundesländer
Drogenkonsumräume ermöglichen nicht nur medizinische Hilfe im Fall einer Überdosis und Infektionsprophylaxe durch sterile Utensilien, sie sind auch ein wichtiger Einstieg in weitere Hilfsangebote und verlagern den Konsum aus der Öffentlichkeit in einen geregelten Rahmen.
Burkhard Blienert, Beauftragter für Sucht- und Drogenfragen der Bundesregierung, erklärte vor Ort:
„Drogenkonsumräume retten Leben, ebenso wie das Drug-Checking. Beides sind wichtige Instrumente, um überhaupt einen Zugang zu schwerstsuchtkranken Menschen zu bekommen. Das alles können erste Schritte sein zu Hilfen und Therapien. Drogenkonsumräume liefern wertvolle Informationen über die Verbreitung von Drogen, die Entwicklungen auf dem Drogenmarkt und das Konsumverhalten insgesamt. Dass Drogenkonsumräume Sinn machen, bestreitet in der Fachwelt schon lange niemand mehr. Eine Debatte über das ‚Ob‘ von Drogenkonsumräumen können wir uns angesichts der wirklich riskanten Entwicklungen bei Crack und synthetischen Opiaten wie Fentanyl an sich auch gar nicht mehr leisten. Ich appelliere deshalb nochmals an die Bundesländer ohne diese Angebote: Ermöglichen Sie die Einrichtung von Drogenkonsumräumen – auch gleich mit Drug-Checking.“
Die Kommunen dürfen nicht, wie sie wollen
Durch die Blockadehaltung der Bayerischen Landesregierung ist der Gastgeberstadt der Welt-Aids-Konferenz München ein etabliertes Mittel der HIV-Prävention verboten.
Verena Dietl, dritte Bürgermeisterin der Stadt München, betonte bei der Nicht-Eröffnung: „Die Stadt München ist überzeugt, dass durch Drogenkonsumräume nicht nur die abhängigen Menschen besser geschützt sind, sondern auch alle anderen Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt. Die bayerische Landesregierung sollte die Entscheidung den Kommunen überlassen, die am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird.“
Wie München möchten auch Nürnberg und Augsburg Drogenkonsumräume eröffnen. Doch die Landesregierung gesteht ihren Kommunen diese Entscheidung nicht zu.
München braucht einen Drogenkonsumraum
Katrin Bahr, Geschäftsführende Vorständin der Drogenhilfeorganisation Condrobs e.V., sprach für das Trägerbündnis „Gedenktag für verstorbene Drogen gebrauchende Menschen in München“:
„Wir benötigen dringend einen Drogenkonsumraum sowohl hier in München als auch in anderen bayerischen Städten wie Augsburg oder Nürnberg. Alle Städte verzeichnen einen steigenden Konsum hochpotenter Substanzen, einhergehend mit einer stärkeren Verelendung der Konsument*innen und erhöhter Belastung des öffentlichen Raums. Unsere humanistische Maxime muss sein, Suchtkranken, die ein Teil unserer Gesellschaft sind, in ihrer Erkrankung mit passgenauen Hilfsangeboten zu begegnen und ihnen ein Leben mit ihrer Erkrankung in Würde und bei möglichst guter Gesundheit zu ermöglichen. Kein Mensch sollte an den Folgen versterben müssen, wenn unser Hilfesystem dies verhindern könnte – hierzu braucht es den politischen Willen und das Handeln der Landesregierung.“
Positive Effekte: Eine Million saubere Spritzen vergeben
Über den Nutzen von Drogenkonsumräumen haben das Institut für Therapieforschung und die Deutsche Aidshilfe gerade vorläufige Daten aus 29 von 33 Einrichtungen in Deutschland ermittelt: 638 Mal wurde im Jahr 2023 medizinische Notfallhilfe geleistet. Viele der betroffenen Menschen wären in ihren Wohnungen oder im öffentlichen Raum ohne diese Hilfe verstorben.
Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug der Deutschen Aidshilfe, erläuterte:
„In deutschen Konsumräumen werden nach Drogennotfällen jedes Jahr Hunderte Menschenleben gerettet. 20.000 Menschen konsumierten letztes Jahr ihre Substanzen in solchen Räumen unter Aufsicht. Rund eine Million sterile Spritzen und Nadeln wurden abgegeben – jede einzelne ein Beitrag zur HIV- und Hepatitis-Prävention. In Bayern hingegen müssen Abhängige auf der Straße oder im privaten Rahmen konsumieren. Da kostet im Schnitt alleine in München einen Menschen pro Woche das Leben. Es ist Zeit, dass Menschlichkeit und wissenschaftliche Evidenz wieder über moralische Bedenken gestellt werden. Es gibt für alle Bedenken erprobte Lösungen!“
Rechtsgrundlage im Betäubungsmittelgesetz (BtMG)
Die Befürchtung, Drogenkonsumräume würden zu vermehrtem Konsum führen, ist nachweislich falsch. Oft wird auch eingewandt, Drogenkonsumräume würden rechtsfreie Räume schaffen oder die Rechtsordnung oder Rechtssicherheit gefährden. Faktisch wird der Konsum dort streng reglementiert und überwacht, während er außerhalb solcher Räume völlig unkontrolliert bleibt.
„Um Rechtssicherheit zu schaffen, hat der Bund eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Drogenkonsumräume sind rechtlich einwandfrei, und eine reibungslose Umsetzung in der Mehrheit der Bundesländer unterstreicht, dass das Recht hier kein Hindernis sein muss“, sagt Stefan Miller.
Thekla Andresen vom Netzwerk JES („Junkies, Ehemalige und Substituierte“) erklärte: „Der höchste Wert müssen immer die Menschenwürde und das Menschenrecht auf den bestmöglichen erreichbaren Gesundheitszustand sein. Was sollte über diesem Ziel stehen? Es ist Zeit, die richtigen Prioritäten zu setzen. Drogen gebrauchende Menschen sind keine Menschen zweiter Klasse!“
Drogenkonsumräume in neun Ländern
Der Bund hat die Einrichtung von Drogenkonsumräumen im Jahr 2000 durch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes legalisiert. Neun Länder haben bisher entsprechende Rechtsverordnungen erlassen, zuletzt Schleswig-Holstein, wo in Kiel bald ein erster Raum eröffnen soll. Nicht erlaubt sind Drogenkonsumräume neben Bayern in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Der erste Drogenkonsumraum im Freistaat Bayern wird unterstützt von: Ärzte der Welt e.V. + AIDS 2024, the 25th International AIDS Conference + Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) + Deutscher Caritasverband e. V.: Caritas München + Therapieverbund Sucht + Condrobs e.V. + Extra e.V. + JES München + Landeshauptstadt München, Gesundheitsreferat (GSR) + Münchner Aids-Hilfe e.V. + Prop e.V. + Therapie Sofort München gGmbH
Mehr Informationen: www.drogenkonsumraum.de
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