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Glaubhaft

A.W. Tozer: Das Bett des Prokrustes

Das Bett des Prokrustes

Die griechische Mythologie berichtet von einem Riesen namens Prokrustes, Sohn des Poseidon. Dieser Prokrustes – im Griechischen bedeutet dieses Wort „der Strecker“ – lud Reisende ein, bei ihm zu nächtigen. Wanderer, die seine Einladung annahmen und groß gewachsen waren, gab er ein kurzes Bett und hackte ihnen die Füße ab. Gäste, die zu kurz geraten waren, bot er ein langes Bett an und zog ihre Glieder in die Länge, bis sie in das Bett passten. So wurde der Ausdruck „das Bett des Prokrustes“ zu einem Sprichwort, das eine Zwangslage oder schwer zu lösende Widersprüche beschreibt.A. W. Tozer beobachtete das Bildungswesen seiner Zeit kritisch und war der Ansicht, dass die Menschen zu sehr auf Uniformität gedrillt wurden; man legte sie sozusagen in das „Bett des Prokrustes.“ Doch auch unter Evangelikalen beobachtete er „Prokrustes bei der Arbeit“:

„Auf dem Gebiet der Religion verhält es sich nicht anders. Auch in den heiligen Hallen der christlichen Gemeinde findet man Prokrustes bei der Arbeit. Er kürzt und dehnt solange, bis alle auf die gleiche Weise aussehen, denken und handeln. Um das zu erreichen, muss er unsere Originalität zerstören, uns Angst davor einflößen, anders zu sein und uns überzeugen, dass Einheitlichkeit gleichbedeutend mit Gottesfurcht und Unangepasstheit gleichbedeutend mit Sünde ist.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass Einheitlichkeit fast immer in Mittelmäßigkeit mündet. Es ist einfacher, sich auf die Ebene der selbstgenügsamen Masse herabzulassen, als sich über diese zu erheben. Es ist einfacher, etwas auswendig zu lernen, als etwas selber durchzudenken. Es ist einfacher zu imitieren, als etwas zu initiieren. Aus diesem Grund hat der (evangelikale) Fundamentalismus des letzten halben Jahrhunderts seine Ausstrahlung verloren und ist trocken und geschmacklos geworden; darum wenden sich zahllose Personen, die nach Gott hungrig sind, von ihm widerwillig ab.

Unglücklicherweise scheint das gegenwärtige Christentum nur zwei Alternativen zu bieten: eine düstere farblose Orthodoxie oder einen Liberalismus, der bei dem Versuch, nicht zu ersticken, über Bord gesprungen und im Strudel des Unglaubens ertrunken ist.

Wir müssen uns daran erinnern, dass Rechtgläubigkeit kein Synonym für die Uniformität eines Prokrustes ist… Wir können rechtgläubig bleiben, ohne intellektuell Toren zu werden… Wir sind frei, aber wir sind nicht „Freidenker“.

Der Unterschied zwischen einem „Freidenker“ und dem christlichen Denker ist, dass der Christ Glaube hat, und der Glaube ist ein besonderes Organ der Erkenntnis, welches der Freidenker ablehnt. Der Christ beginnt dort, wo der Ungläubige endet… Der Christ geht von einer festen Grundlage aus, während der Mann, der keinen Glauben hat, von einer unsicheren Grundlage ausgeht.

Christus ist das Licht der Welt, und seine Gegenwart erhellt nicht nur den Geist und den Verstand seines Volkes. Wie ein Stern sich vom nächsten in seiner Strahlkraft unterscheidet, so unterscheiden sich die Kinder Gottes untereinander. Sie alle gehören gleichermaßen zum Leib Christi, und dennoch sind sie so verschieden wie die einzelnen Glieder des Leibes. Ihnen eine künstliche Uniformität aufzwingen zu wollen, würde ihnen großen Schaden zufügen.“

A.W. Tozer, The Set of The Sail, Christian Publications, Camp Hill, Pensylvania, 1986, S.126-128 (auszugsweise)

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