Stromsektor steht vor dem Stresstest
München (ots) – Der bis zum Jahr 2038 geplante Kohleausstieg sorgt schon jetzt für akuten Handlungsbedarf. Werden die Rahmenbedingungen im Energiesektor nicht rasch angepasst, drohen in den nächsten Jahren Preisturbulenzen und perspektivisch Versorgungsengpässe. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse der Strategieberatung Oliver Wyman. Um gegenzusteuern, braucht Deutschland rasch zusätzliche, flexible Versorgungslösungen wie Gaskraftwerke oder Stromspeicher. Langfristig ist ein völlig neues Marktmodell erforderlich: Die Politik muss Energieversorgern Anreize geben, in Kapazitäten für die Stabilisierung des Stromsektors zu investieren und einen Rahmen schaffen, der die nächste Generation von Stranded Assets vermeidet. Der Kohleausstieg wird zum Stresstest für Regierung und Versorger. Eine Analyse der Strategieberatung Oliver Wyman zeigt: Bis zum Jahr 2022 könnten die Strompreise in Deutschland stark ansteigen – von rund 40 Euro pro Megawattstunde (MWh) im Jahr 2018 auf bis zu 65 Euro. „Die Zeit der niedrigen Strompreise ist vorbei“, sagt Jörg Stäglich, Partner bei Oliver Wyman in München. „Zugleich erhöht sich durch den Kohleausstieg die Volatilität. Wir werden Preissprünge und anschließende Korrekturen erleben.“ Zudem wächst die Gefahr von Versorgungslücken, da vergleichsweise planbare Kohle- und Kernkraftwerke aus dem Pool genommen werden. Die Prognose fußt auf einem sogenannten dynamischen Merit-Order-Modell, das den deutschen Strommarkt simuliert. Bis zum Jahr 2038 will die Bundesregierung die Kohle-Verstromung beenden. Der Ausstieg beginnt schon jetzt: Innerhalb von vier Jahren sollen Anlagen mit einer Leistung von rund elf Gigawatt vom Netz genommen werden – ein Viertel davon sind Braunkohlekraftwerke. „Da 2022 auch das letzte Kernkraftwerk in Deutschland abgeschaltet werden soll, rechnen wir in dem Jahr mit dem höchsten Preisausschlag“, sagt Stäglich. Zwei für die Regierung wichtige Vorgaben der Energiewende stehen so in Frage: die Bezahlbarkeit der Energie und die Versorgungssicherheit. „Politik und Energiewirtschaft müssen rasch handeln, um gegenzusteuern“, mahnt Stäglich. Veränderung des Erzeugungsmarktes Ohne zusätzliche, flexible Leistung wird die Energiewende nicht zu schaffen sein. „Aus einer rein wirtschaftlich rationalen Perspektive müssten wir jetzt eine Renaissance der Gaskraftwerke erleben“, prognostiziert Thomas Fritz, Partner bei Oliver Wyman in Düsseldorf. Größere Investitionen in Speicher sowie wasserstoffbasierte Erzeugung, etwa Brennstoffzellen, ließen dagegen noch auf sich warten, da sie bislang nicht ausreichend wirtschaftlich zu betreiben sind. „Die zentrale Frage ist, inwiefern Gaskraftwerke gesellschaftlich akzeptiert werden und ob Gas nicht in fünf bis zehn Jahren die „neue Kohle“ ist. In jedem Fall werden langfristig Stromspeicher und Wasserstoff als Stabilisatoren essenziell für die Versorgungssicherheit sowie für das Erreichen der Klimaziele sein“, so Fritz. Auf längere Sicht gehen die Oliver Wyman-Experten davon aus, dass sich die Strompreise auf einem Niveau von etwa 50 Euro pro MWh einpendeln. „Wenn wir keinen regulatorischen Eingriff in den Markt erleben, dann wird der Neubau von hocheffizienten Gaskraftwerken zusammen mit moderat ansteigenden Rohstoffpreisen die Strompreise mittelfristig wieder bremsen“, sagt Dennis Manteuffel, Principal von Oliver Wyman. Von den insgesamt höheren Preisen profitieren jedoch die Energieversorger nicht: „Im Gegenteil: Mittel- bis langfristig wird das erwirtschaftete Ergebnis sinken.“ Ursache dafür seien immer kürzere Einsatzzeiten für konventionelle Kraftwerke aufgrund des zunehmenden Ausbaus der Erneuerbaren. Frühzeitig Roadmaps aufstellen Versorger müssten diese Trends schon jetzt in die Planungen des zukünftigen Kraftwerksparks einbeziehen. „Sie müssen klare Roadmaps und Szenarien für den Umstieg auf Gaskraftwerke, Speicher und Wasserstoff aufstellen“, sagt Oliver Wyman-Berater Fritz. Dabei gilt es, über den Strommarkt hinauszuschauen. „Versorger sollten Chancen für ihre Gaskraftwerke insbesondere in Kombination mit Fernwärme evaluieren und ein übergreifendes Strom- und Wärmekonzept aufstellen.“ Auch Wasserstoff spielt hierbei eine wichtige Rolle. So kann dieser zunächst in kleineren Mengen dem Gasnetz beigemischt werden, um die CO2-Bilanz zu verbessern. Langfristig ist eine deutliche Ausweitung von Wasserstoff im Energiesystem ein denkbares Szenario. „Letztlich hängt es von gesellschaftlicher Akzeptanz, technologischem Fortschritt und Wirtschaftlichkeit ab, wie sich Gaskraftwerke, Batterien, Wasserstoff und mögliche weitere Technologien einpendeln“, sagt Fritz. Stäglich empfiehlt den Unternehmen eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung und Regulierungsbehörden. „Sie können so Unterstützung finden, um in derzeit nicht wirtschaftliche, aber vielleicht gesellschaftliche und politisch präferierte Technologien wie Speicher oder Wasserstoff früher einzusteigen.“ Weiterer Vorteil: Sogenannte Stranded Assets – zum Beispiel schon nach kurzer Zeit nicht mehr benötigte Gaskraftwerke – müssen gar nicht erst gebaut werden, erläutert Fritz. Am Ende profitieren Haushalte und die gesamte Wirtschaft: „So ließen sich auch gesamtgesellschaftlich die Kosten reduzieren.“ Spätestens nach dem endgültigen Kohleausstieg Ende der 2030er Jahre ist nach Ansicht der Oliver Wyman-Berater ein völlig neues Marktmodell nötig. Entscheidend dabei: „Die Bereitstellung von Reservekapazitäten oder sicher verfügbarem Strom hat einen expliziten Wert – und das muss auch gewürdigt werden“, so Manteuffel. Dass Gaskraftwerke oder Speicher überhaupt unterhalten werden, müsse über den regulatorischen Rahmen finanziell honoriert werden: „Denn ein System mit hohen Anteilen Erneuerbarer Energie wird Gaskraftwerke durch die resultierenden geringen Laufzeiten negativ beeinflussen – auch wenn sie für einen funktionierenden Energiemarkt notwendig sind“. 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