Appell an die Medizinischen Fachgesellschaften: Interessenkonflikte von Leitlinien-Autoren müssen nicht nur erklärt, sondern reguliert werden
Klinische Leitlinien sollen Ärzten und Patienten helfen, die bestmögliche Behandlung für eine Krankheit zu finden. Sie sollen sich ausschließlich auf die verfügbare wissenschaftliche Evidenz stützen und dürfen nicht vom Gewinnstreben der Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten beeinflusst werden. Die ärztlichen Autoren medizinischer Leitlinien sind jedoch häufig mit der Industrie verflochten, beispielsweise durch Beraterverträge, Vortragshonorare und Industrie-finanzierte Studien. Daraus ergeben sich Interessenkonflikte, also das Risiko einer verzerrten Bewertung aus sachfremden Beweggründen.
MEZIS, Transparency Deutschland und NeurologyFirst engagieren sich für eine Industrie-unabhängige Medizin. Gemeinsam starten sie nun eine Kampagne, um die Unabhängigkeit von Leitlinienempfehlungen zu sichern. Adressat sind die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland und ihre Dachorganisation, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Auf der Webseite http://www.neurologyfirst.de/appell/ werden dafür Unterschriften von ärztlichen Unterstützern gesammelt.
Die Kernforderungen lauten:
– Mindestens 50% der Leitlinienautoren dürfen keine (oder allenfalls geringfügige) Interessenkonflikte haben – langfristig soll dies für alle Autoren und Autorinnen gelten.
– Der federführende Autor darf keine Interessenkonflikte haben.
– Zur Bewertung der Schwere von Interessenkonflikten werden Regeln erarbeitet.
– Autoren müssen sich bei Abstimmungen enthalten, wenn ein Interessenkonflikt besteht.
– Entwürfe von Leitlinien müssen in der Fachgesellschaft breit diskutiert werden.
Inzwischen werden Interessenkonflikte von Leitlinienautorinnen und -autoren zwar weitgehend offengelegt, aber kaum reguliert. Aktueller Anlass der Aktion ist die AWMF-Leitlinie „Sekundärprävention ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“. Daran beteiligt waren Vertreter von 19 Fachgesellschaften und Verbänden. Die Leitlinie entspricht dem höchsten methodischen Niveau S3. Die Interessenkonflikte der Leitliniengruppe werden transparent beschrieben, jedoch keine ausreichenden Konsequenzen gezogen. So empfiehlt die Leitlinie beispielsweise den bevorzugten Einsatz der neuen und teuren Blutverdünner gegenüber den herkömmlichen Vitamin-K-Antagonisten. Die Entscheidung fiel mit zehn zu neun Stimmen bei vier Enthaltungen äußerst knapp. Unter den 23 stimmberechtigten Mitgliedern der Leitliniengruppe gaben 16 Interessenkonflikte an: 10 hatten Beraterverträge mit den Herstellern der neuen Blutverdünner, sechs weitere hatten Vortragshonorare von dieser Seite erhalten. Zwar weiß niemand, ob die finanziellen Beziehungen zur Industrie die Entscheidung tatsächlich beeinflusst haben, sie sind aber als Risiko für eine Beeinflussung anzusehen und wecken so Zweifel an der Glaubwürdigkeit einzelner Empfehlungen.
Für Dr. Angela Spelsberg von Transparency Deutschland ist die Vermeidung von Interessenkonflikten bei Leitlinienautoren eng verknüpft mit der Transparenz klinischer Studien: „Leitlinienautoren haben eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der 2014 verabschiedeten europäischen Richtlinien für die Transparenz klinischer Studiendaten. Studien, die diese Kriterien nicht erfüllen, können dann bei Leitlinien nicht oder nur mit Einschränkungen berücksichtigt werden. Nach diesen klaren Regeln lassen sich Interessenkonflikte bei Leitlinienautoren besser erkennen und vermeiden.“
Dr. Niklas Schurig vom MEZIS-Vorstand betont die Verpflichtung zur Neutralität: „Die Ärzteschaft, unsere Patientinnen und Patienten und die Öffentlichkeit erwarten, dass ärztliche Behandlungsempfehlungen unabhängig von kommerziellen Interessen sind. Daher muss ein Industrieeinfluss bei medizinischen Leitlinien ebenso strikt ausgeschlossen werden wie etwa bei der Stiftung Warentest.“
Prof. Dr. Thomas Lempert von NeurologyFirst ergänzt: „Der häufig vorgebrachte Einwand, dass es in den Fachgesellschaften keine Pharma-unabhängigen Experten mehr gäbe, ist für uns keine überzeugende Rechtfertigung, sondern ein behandlungsbedürftiger Befund.“