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Kultur & Wissenschaft

Den Romananfängen der Weltliteratur widmet sich das 10. von Günter Grass initiierte „Lübecker Literarische Colloquium“

Text und Foto: TBF/ Lutz Gallinat

Den Romananfängen der Weltliteratur widmet sich das 10. von Günter Grass initiierte „Lübecker Literarische Colloquium“ (LLC), das vom 3.Mai bis 9.Juni 2011 in der Hansestadt stattfindet. Die Seminare werden von dem Literaturwissenschaftler Dr. Dieter Stolz geleitet. Bereits in der Einleitung eines Romans werden wegweisende Entscheidungen über das Genre, den Stil und die Tonlage getroffen. Fragen wie: „Wer erzählt wem, was und wann? Und vor allem: wie und warum?“ sollen in sechs Einzelveranstaltungen des Colloquiums beantwortet werden.
Am letzten Mittwoch wurden im Seminarraum des Günter Grass-Hauses „Kindheitsmuster“ (1976) von Christa Wolf und „Auslöschung“- „Ein Zerfall“ (1986) von Thomas Bernhard als Romanbeispiele der Weltliteratur gelesen und diskutiert.
Erzähltechnisch folgt Wolf damit ihrem bereits in „Nachdenken über Christa T.“ (1968) umgesetzten Konzept der subjektiven Authenzität. Die Autorin spielt in „Kindheitsmuster“ bewusst mit der Verbindung von Fiktion und Autobiografie. Während sie im Vorwort zum Roman betont, dass „alle Figuren in diesem Buch (…) Erfindungen der Erzählerin“ seien, formuliert Wolf an anderer Stelle: (..) ich kaschiere an keiner Stelle, dass es sich sozusagen um Autobiographisches handelt; das wird nicht verschwiegen. Wobei dieses „sozusagen“ wichtig ist, es ist nämlich keine Identität da“. Zugleich begibt sich der Roman auf die aus der DDR-Perspektive brisante Suche nach Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart und kreist insofern um die Frage „Wie war das möglich, und wie war es wirklich?“ So überrascht es nicht, dass der Roman bei seinem Erscheinen zwiespältig aufgenommen wurde: als literarische und als historisch-politische Irritation. Innerhalb der Nachkriegsliteratur gehört „Kindheitsmuster“ zu den bedeutenden Versuchen, die Gattung des Romans als eine Art literarische Gedächtnisgeschichte zu verstehen, in der unterschiedlichste Erinnerungsmomente und Perspektiven spannungsreich aufeinandertreffen.
Die äußere Handlung wird über das Bewusstsein des Erzählers gefiltert, ja das Denken selbst wird zum eigentlichen Thema des Geschehens. Beweggrund der Niederschrift des Gedankenflusses ist dabei der Wille zur Aufarbeitung des „Herkunftskomplexes“ von Murau, die Summe jener Einflüsse, die seine Persönlichkeit und Existenz bestimmen und letztlich zerstören. Dabei findet die für Bernhard typische Philippika gegen den österreichischen Staat und dessen gesellschaftliches Klima, gegen Tradition und Kultur, Fotografie, Leitzordner und Goethe ebenso Raum wie Muraus persönliche Auseinandersetzung mit seiner Familie. Die einzige Möglichkeit einer „Existenzüberbrückung“ sieht Murau in der maßlosen Übertreibung, in der Stilisierung zum „größten Übertreibungskünstler“. Nur gegenüber wenigen Figuren- jenen Menschen, die er seine Freunde oder Lehrer nennt- schlägt er einen freundlicheren Ton an: Es sind dies sein gleichaltriger Cousin Alexander, die Dichterin Maria, in deren Porträt unschwer Ingeborg Bachmann zu erkennen ist, und sein Onkel Georg. Diesem verdankt Murau sein „Geistesvermögen“, seine künstlerischen und philosophischen Neigungen und die Hinführung „auf den tatsächlichen Weg, auf den Gegenweg“. Der Gegenweg mündet in einen Gestus der Verweigerung und Entäußerung; das Motiv der Verschenkung des Erbes wurde schon in Interpretationen früherer Werke Bernhards als Aufgabe von Geschichte und Identität bewertet. Mit der virtuosen Kongruenz von Idee und sprachlicher Form stellt „Auslöschung“ einen eindrucksvollen Beitrag zur avancierten modernen Prosa dar.
Dr.Dieter Stolz leitete dieses Seminar kenntnisreich und engagiert.