Die Vermessung der plattesten Landschaft der Welt
Beim Blick aufs Watt wären sich die meisten Menschen einig: Dies ist die wohl platteste Landschaft der Welt. Beim genaueren Hinsehen wird schon klar: Auch hier gibt es Senken, Priele, es gibt Hubbel und ein natürliches Gefälle, sonst wäre das Meer ja überall gleich flach. Wie hoch oder niedrig das Watt genau ist, messen Ernst-Julius Levsen und seine vier Kollegen vom Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN-SH). Und genau heißt: Hier geht es um Zentimeter.
Wo das Wasser in Küstennähe tief genug ist, wird ein Boot eingesetzt: Die „Hafenlot“, eine kleine Peiljolle, tastet mittels Echolot den Meeresboden ab. Wo es flacher wird, wird zu Fuß vermessen. Dafür schnallt sich der 60-Jährige einen Rucksack mit Satelliten- und Funkempfänger auf den Rücken, nimmt einen zwei Meter langen Stab in die Hand und wandert los. Sich die Gegend anschauen darf er dabei nicht, dafür bekommt er aber außerirdische Hilfe: Der Stab ist ein Hightech-Gerät – aus Carbon, mit einem mobilen Satellitenempfänger obendrauf und auf Handhöhe einem Computer im Mini-Format. „Der Cursor auf dem Display zeigt mir meine Position und die Linie, die ich ablaufen muss.“ Alle paar Schritte oder dort, wo sich die Oberfläche besonders verändert, muss der Stab ganz senkrecht hingestellt werden. Beim Geradehalten hilft die Dosenlibelle, eine Art Wasserwaage. Doch nach 27 Jahren als Vermessungsingenieur beim Küstenschutz hat Levsen das natürlich im Gefühl.
An Land steht derweil eine Basisstation, von der Korrekturdaten ausgesendet werden. Der GPS-Empfänger im Rucksack berücksichtigt diese und ermittelt die wahre Position – denn die vom Satelliten gesendete Position kann bis zu zehn Meter neben dem tatsächlichen Ort liegen. „Aber mit Hilfe der Referenzstation kommen wir auf eine Genauigkeit im Zentimeterbereich“, sagt Levsen, „und das auch in der dritten Dimension – sprich: Höhe.“
Dafür bringen die amerikanischen Satelliten des Global Positioning Systems (GPS) und neuerdings auch die des russischen Globalnaya Navigatsioannaya Sputnikovaya Sistema (GLONASS) den Seevermessern unschlagbare Vorteile: „Ob bei Schneetreiben, bei Nebel oder bei Regen – ganz egal, wir können messen.“ Und schneller geht es auch. Levsen: „Zwischen Pellworm und Süderoog gibt es eine Profillinie, die laufe ich in einem Niedrigwasser ab – einschließlich Rückweg.“ Dafür brauchten die Landmesser früher mit Messlatte und Theodolit mehrere Tage.
Für die Hydrographie im Flachwasser ist Levsen mit seinem Team für ganz Schleswig-Holstein zuständig. Das heißt, sie vermessen nicht nur Küstenabschnitte in Nord- und Ostsee sondern auch Seen und zuweilen auch Teile von Flüssen wie Treene oder Eider. Dabei verstehen sie sich als Dienstleister für die anderen Geschäftsbereiche im Landesbetrieb. Zum Beispiel für die Kollegen von der Bauabteilung: Sie benötigen Messdaten, um Deiche oder andere Bauwerke zu planen oder auch die Sandvorspülungen. Wie verändert sich das Watt vor Sperrwerken oder Sielen? Wo gibt es Erosion, wo Sedimentation? Auch dies wird durch immer wiederkehrende Peilungen ermittelt. Und alle zehn Jahre werden die Landesschutzdeiche abgelaufen, um festzustellen, ob sie noch überall die richtige Höhe haben. Die landeseigenen Häfen werden hydrographisch vermessen, um zu erfassen, wo sich viel Sediment abgelagert hat – wo also im Winter ausgebaggert werden muss. Oder für die Gewässerkundler: Ihre Pegellatten, Seegangsmessstationen oder Beobachtungsbrunnen müssen höhenmäßig richtig eingemessen sein – eine Voraussetzung für richtige Wasserstandaufzeichnungen und Prognosen. Auch für die Kollegen vom Nationalpark wird gemessen: Wie entwickeln sich das Vorland und die Watten nahe der Vegetationsgrenzen?
Levsen: „Wir messen überall, wo Höhe, Lage oder auch beides genau ermittelt werden muss.“ Wenn es um Deformationen an Bauwerken geht, kann „genau“ auch heißen: Im Millimeterbereich.
Außerdem müssen alle größeren Seen regelmäßig hydrographisch vermessen werden. Also tuckert die „Hafenlot“ nach einem festgelegten Raster kreuz und quer über den Großen Plöner See, den Selenter See, den Stocksee und 70 weitere, um den Seegrund in Tiefe und Lage zu erfassen. Diese Daten gehen dann in Kartenwerke ein.
Demnächst jedoch werden die Blattecken all dieser Karten geradezu hinfällig: Um eine einheitliche europäische Basis zu schaffen, werden alle Datenbestände in Deutschland von Gauß-Krüger-Koordinaten auf das verbreitetere UTM-System umgestellt. Es gilt ganz einfach gesagt ein neues Koordinatensystem. Ernst-Julius Levsen erklärt: „Unsere Aufgabe ist ja, die Erdoberfläche möglichst flächentreu abzubilden.“ Dass die Erde keine Scheibe ist, macht die Sache nicht leichter. Sie ist noch nicht mal rund! Jedenfalls nicht kugelrund. Ellipse trifft es schon eher. Um also die gekrümmte Erde auf der Fläche abzubilden, hatte Carl-Friedrich Gauß die 3°-breiten Meridianstreifen erdacht. Im UTM-System gelten nun 6° breite Zonen, was den Vorteil hat, dass Schleswig-Holstein komplett innerhalb einer Zone, der 32., liegt.
Doch für die Landmesser im LKN-SH ist die Umstellung ein harter Brocken. „Eine Hausaufgabe, die uns für das tägliche Messgeschäft nichts einbringt. Nur viel Arbeit“, sagt Levsen. Den Winter wird er wohl im Büro verbringen. Die Küste umrechnen.