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Kultur & Wissenschaft

Dr. phil. Peter Guttkuhn: „202 Jahre lübeckisches Dorf und Gut Moisling“

Dr.-Guttkuhn
Auch heute setzen wir in hier-luebeck die Vorstellung der Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historikers Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ fort. Heute mit dem 1. von drei Teilen:

Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn
202 Jahre lübeckisches Dorf und Gut Moisling

1. Teil
Vor gut 202 Jahren – am 3. Juni 1806 – erließen „Bürgermeister und Rath der Kaiserlichen und des heiligen Römischen Reichs freien Stadt Lübeck“ eine „Notification“, in der sie mitteilten, „wie zwischen Sr. Königlichen Majestät zu Dänemark und Norwegen und Uns in Betreff der Territorial- und Episcopal-Hoheit über die im Bezirke des Herzogthums Holstein belegenen Stadt-Stifts-Dörfer und Güter ein Vergleich unterm 22sten Januar 1802 abgeschlossen und von beiden Seiten ratificirt worden, kraft dessen die volle Landeshoheit [Territorial-Botmäßigkeit] über die Eingangs namentlich aufgeführten Dörfer, sammt allen und jeden ihr anklebenden Befugnissen und dem Episcopal-Recht, dieser freien Reichsstadt überlassen und förmlich cedirt [abgetreten] ist“. Auch Dorf und Gut Moisling nebst sämtlichen „gutgesinnten Unterthanen“ gelangten am 3. Juni 1806 unter die „alleinige rechtmäßige Landes-Obrigkeit“ Lübecks.

Topographie und Geschichte von Dorf und Gut Moisling

Der Ortsname „Moisling“ ist slavischer Herkunft, im Deutschen umgebildet worden und seit dem 13. Jahrhundert belegt. Das Dorf lag im Südwesten der „Kaiserlich Freien und des Heiligen Römischen Reichs Stadt“ Lübeck, 3,88 km Luftlinie vom Lübecker Markt, 4,65 km Landweg vom Rathaus bis zum Dorfteich – dem heutigen Bertold-Katz-Hain -, am Zusammenfluß von Trave und Stecknitz, innerhalb der beiden Stromarme, außerhalb der Lübecker Landwehr, eine Stunde von der Stadt; es gehörte zum Kirchspiel (Kirchensprengel) des evangelisch-lutherischen Kapitelsdorfes Genin, besaß weder Kirche noch Pfarrer und war bis 1783 nur mit einem Fährboot über die Trave erreichbar.

Eine Brücke über die Stecknitz, die die Dörfer Moisling und Genin verband, entstand erst 1887. Moisling war Grenzort zwischen Bistum Lübeck, freier Reichsstadt Lübeck und dem königlich-dänischen Herzogtum Holstein. Geographische Lage: 53° 51′ 50“ nördlicher Breite, 10° 38′ 40“ östlicher Länge. Sein Ausmaß: 429,40 ha, wovon 23,26 ha Fläche auf Waldgebiete entfielen. Der Gutshof befand sich in dem Winkel, den die Einmündung der Stecknitz in die Trave – heute Elbe-Trave- oder Elbe-Lübeck-Kanal – bildet, am nördlichen Ende des Dorfes. Die Gesamtgröße des Gutes umfaßte ein Areal von 243 ha: Ackerland, Wiesen, Weiden und Forstland. Angebaut wurden Roggen, Hafer und Weizen.

Einige der so genannten lübeckischen Stadt-Dörfer und -Güter, zu denen auch Moisling gehörte, bildeten seit jeher einen Zankapfel zwischen Dänemark-Holstein und der freien Reichsstadt Lübeck: Sie lagen im Herzogtum Holstein, Landeshoheit und Jurisdiktion aber wurden beharrlich von Lübeck beansprucht, ohne daß die Ratsherren jedoch auf einen Vertrag verweisen konnten. Daher benutzte der jeweilige Eigentümer des Gutes die schwache lübeckische Rechtsposition im Jahrhunderte langen Ringen um Moisling nach eigenen Interessen und Absichten. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildete Moisling nicht nur ein finanziell-wirtschaftspolitisches Streitobjekt und diplomatisches Druckmittel, sondern auch ein innenpolitisch-antijüdisches Betätigungsfeld.

Zwei Gutsherren traten in diesen Auseinandersetzungen besonders hervor: Gotthard von Höveln (1603-1671) und sein Schwiegersohn Gottschalk von Wickede (1635-1699). Höveln, 1640 in den Lübecker Rat gewählt und seit 1641 mit kaiserlichem Adelspatent versehen, gehörte zur kaufmännischen Oberschicht der Stadt. 1646 erbte er – damals Kämmereiherr – Gut Moisling. Acht Jahre später erlangte v. Höveln nicht nur eine kaiserliche Bestätigung des Kaufbriefs seines Gutes, sondern auch die lebenslängliche Bürgermeister-Würde.

Lübecks Bürgermeister von Höveln unterstellt Moisling
dänischer Territorialhoheit (1667)

Wie viele seiner adligen Standesgenossen, so beschäftigte auch der landbegüterte Patrizier von Höveln in Moisling unzünftige, billigere Handwerker, so genannte Bönhasen, hauptsächlich Brauer, Brenner und Weber, um kostengünstiger produzieren und preiswerter verkaufen zu können. Vermutlich konnte er in der Produktion polnisch-jüdische Flüchtlinge gewinnbringend einsetzen, die der Gutsherr seit 1656 wegen ihrer Spezialkenntnisse ansiedelte. So ist von 1726 an Jacob Isaac als Moislinger Hof-Branntweinbrenner belegt. Wahrscheinlich aber brauchte von Höveln die Juden auch zur Vermarktung seiner Produkte. Konfessionelle Überlegungen spielten dabei offensichtlich kaum eine Rolle, ihm war mehr an den jährlichen Schutzgeldern gelegen.

Die Einigung des Rats mit der Bürgerschaft im so genannten Kassarezeß vom 26. Juli 1665 – es handelte sich um Auseinandersetzungen des Rates mit der Bürgerschaft wegen Errichtung und Verwaltung einer allgemeinen Stadtkasse -verschärfte die Konfrontation zwischen dem aristokratisch-patriarchalischen Bürgermeister sowohl mit dem Rat selbst als auch mit den Bürgern. In einer umfangreichen Klageschrift verschiedener Zünfte an den Rat vom 21. März 1666 wurde nicht nur von Hövelns „Böhnhaserey“ in Moisling scharf gerügt und auf die eigene Monopolstellung in Produktion und Handel hingewiesen, sondern auch die rhetorische Frage gestellt, „ob nicht wohl vermöge vormahls producirten … Decreten, die Zulassung der Juden ernstlich untersaget sei?“ Angefeindet von vielen Seiten, geriet er in die Isolation. Die „Visitationen“ (bewaffneter Lübecker Zunfthandwerker) in den rechtlich und politisch umstrittenen Gütern eskalierten bis zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Reichsstadt Lübeck und dem Königreich Dänemark.

Da entschloß er sich 1667 – zusammen mit fünf gleich gesinnten patrizischen Eigentümern umliegender Güter – zu einem Befreiungsschlag: Er stellte Moisling unter königlich-dänische Schutzherrschaft. Dadurch gerieten Dorf und Gut in ein Beziehungsgeflecht aus königlich-dänischen, herzoglich-schleswig-holsteinisch-gottorfischen und reichsstädtisch-lübeckischen Interessen. Zwei Jahre später – nach Unterzeichnung des von ihm heftig befehdeten Bürgerrezesses vom 9. Januar 1669 – trat von Höveln aus dem sich selbst ergänzenden Rat aus, gab sein Lübecker Bürgerrecht auf und erhielt von König Friedrich III. von Dänemark (1648-1670) das Amt des holsteinischen Vizekanzlers in Glückstadt. König Christian V. (1670-1699) stellte 1670 einen Schutzbrief (Geleitbrief) für Moisling aus. Die Recognitions- oder Schutzgelder waren von der Kopenhagener Rentekammer für das Stamm- und Erbgut Moisling unveränderlich auf 57 Taler in dänischen Kronen festgesetzt worden, zahlbar jährlich in der königlichen Amtsstube in Segeberg „auf dem Kieler Umschlag“, d. h. also in der Zeit vom 6. bis 14. Januar. Im Übrigen war das Gut steuerfrei. Damit hatte man die politischen Fronten abgesteckt, doch die Reichsstadt Lübeck konnte und wollte sich mit dem Verlust der Dörfer nicht abfinden, blieb weiterhin an Moisling interessiert.
Dr. Peter Guttkuhn

hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.

Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.