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Kultur & Wissenschaft

Dr. phil. Peter Guttkuhn: Wasserschaden in der Königstraße oder lüb’sche Nachbarschaftshilfe?

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Auch für heute hat der in Lübeck arbeitende Privatgelehrte und Historiker Dr. Peter Guttkuhn in der hier-luebeck-Reihe „Sonntags-Beiträge“ eine interessante Geschichte ausgesucht, der er folgendes voranstellt: „In den Rahmen des Stadtprojekts „Mensch Bürger. Wir sind die Stadt“ gehört natürlich auch ein deutlicher Hinweis auf „bürgerliche Tugenden“.

Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn
Tugenden wie Nachbarschaftshilfe, Kompromissbereitschaft und Respekt vor der Person und dem Eigentum des Mitbürgers.
In diesem Sinne die heutige lübsche Sonntags-Geschichte, auch wenn sie während der kalten Jahreszeit sich zutrug“:

Wasserschaden in der Königstraße oder lüb’sche Nachbarschaftshilfe?

Es war einmal ein tüchtiger, weitbekannter und streitbarer lübeckischer Senator namens Georg Christian Tegtmeyer, ehemals Ältester der Schonenfahrer. Seine Wohlweisheit, der Herr Senator, standen zahlreichen lübischen Staatsverwaltungen vor, so unter anderem der Brandbehörde und dem Militärdepartement, dem Finanz- und dem Forstdepartement. Und natürlich auch der eigenen, privaten Handlungsfirma; die hatte ihr Comptoir in der Lübecker Königstraße bei der Hüxstraße, just neben dem Haus der Ernestinischen Schule (1830-1904), Königstraße Nr. 867, heute Nr. 77.

Vor lauter Regierungstätigkeit genoß der Mann des Hohen Senats nur sporadisch häuslich-familiäre Mußestunden. Und die wurden ihm seit Jahren schon – besonders zu Zeiten der damals noch schneereich-kalten und finsteren Winter – mächtig vergällt. Bereits seit langem hatte er sich über die Angelegenheit geärgert und beschwert; doch nun, im Januar 1861, war der Zorn mit dem 68-jährigen agilen Greis durchgegangen, er hatte Anzeige erstattet, und zwar ganz förmlich: beim Polizei-Amt des Freistaats Lübeck.

Er gab zu Protokoll, daß von oben Wasser in sein Haus dringe, welches von den obern Stuben bis in sein unten an der Diele belegenes Comptoir laufe und davon herrühre, dass der auf dem Dach des Nachbarhauses, der Ernestinischen Schule, sub Nr. 867 in der Königstraße, liegende Schnee, entweder weil der Schornstein zu nahe unter diesem Dach liege oder weil die Dachstuben zu warm gehalten werden, schmelze, die Dachrinne mit Wasser fülle und dieses dann überlaufe und in sein Haus dringe, da die Ablauftrumme bei der jetzigen strengen Kälte gänzlich zugefroren sei, obgleich häufig heißes Wasser in dieselbe gegossen werde, wodurch sich große Eiszapfen bildeten, die selbst der Passage gefährlich werden könnten.

In der Tat handelte es sich um schwerwiegende Gefährdungen privater und öffentlicher Einrichtungen, so daß man umgehend zu einer örtlichen Besichtigung schritt.

„Man“, das waren neben dem Senator Tegtmeyer (1792-1878) der Dirigent des Polizeiamtes, der Senator Dr. Johann Carl Böse (1802-1870). Als technischen Beirat hatte er mitgebracht den Staats-Baudirektor Anton Ferdinand Benda (1817-1893), den späteren Eisenbahndirektor und Parlamentarier, sowie den Polizeikanzlisten Johann Heinrich Georg Eisenblätter (1826-1893), der fürs Protokoll zuständig war.

Die beklagte Partei, die Ernestinenschule, vertrat der Staatsarchivar Carl Friedrich Wehrmann (1809-1898), der die Privatschule bis 1854 geleitet hatte und nach wie vor in der Kurtzhals-Stiftung tätig war, der die Ernestinenschule gehörte. Der Lokaltermin des hochkarätigen Bürger-Quintetts im und vor dem Schulgebäude fand am 15. Januar 1861, 14.30 Uhr, statt, einem bitterkalten Wintertag.

Die Besichtigung der obern Localität ergab, dass der Schornstein hart unter dem Dach längs geschleppt und dass auch in der straßenwärts belegenen Bodenabteilung eine angenehme Wärme vorherrschend war, welche hauptsächlich von einem aus einer an diese Localität angrenzenden Kammer in den Schornstein geleiteten eisernen ca. 4 Fuß (1,16 m) langen Ofenrohr herzurühren schien.

Guter Rat, das hieß Abhilfe des Übelstands, war tatsächlich teuer: Eine Verlegung des inkriminierten Ofenrohres durfte nach der geltenden staatlichen Bauordnung nicht ins Auge gefaßt werden. Der klagende Senator, damals noch Inhaber der legislativen, exekutiven und judikativen Staatsgewalt, mußte sich an Gesetz und Recht halten. Das tat er. Die Alternative – eine Neu-Verschalung des gesamten Daches der Ernestinenschule – erschien ihm nicht nur zu beschwerlich und unangemessen, sondern vor allem zu kostspielig.

So einigten sich beide Seiten denn auf eine wahrhaft genialische Lösung des Problems: Nach jedem (größeren) Schneefall wolle man die Dachrinne vom Schnee befreien!

Und: Der klägerische Senator Tegtmeyer fand sich bereit, zu den Reinigungskosten der Ernestinenschule beizutragen, was bis an sein Lebensende auch geschah. Die Ernestinenschule ihrerseits trug noch ein weiteres zu diesem schiedlich-friedlichen Kompromiß bei: Behufs der bessern Fortschaffung des Schnees aus der Rinne übernahm es der Staatsarchivar Wehrmann, das in dem Vordergiebel über der Rinne befindliche Loch so viel vergrößern zu lassen, dass selbiges eine Höhe von 2 Fuß (0,58 m) und eine Breite von 1/2 Fuß (0,145 m) bekomme.
Fazit: Nachhaltige Nachbarschaftshilfe ist wahrlich kein „Schnee von gestern“.

Dr. Peter Guttkuhn

hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.

Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.