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Menschlich gesehen

Landesbischof Ulrich: Wahrheit kommt nur im Diskurs zu Wort

Lübeck-Travemünde (fz). Der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche), Gerhard Ulrich, hat am 27. Februar auf der Tagung der Landessynode in Lübeck-Travemünde an das „protestantische Prinzip“ erinnert, „dass die Wahrheit, mit der wir als Christenmensch leben und sterben können, nur im Diskurs, in der pfingstlichen Stimmenvielfalt zu Wort kommt!“ Je höher die Komplexität der Lebenszusammenhänge sei, desto größer die Sehnsucht nach einfachen Lösungen, Antworten und Orientierungen, so Ulrich. Aber: „Trotz der schlagzeilenorientierten Meinungsbildung und vieler Diskussionen auf Twitter-Niveau sind wirkliche Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit nur in mühevoller Kleinarbeit, in genauem Hinsehen und Wahrnehmen zu erreichen“, sagte Ulrich in Lübeck-Travemünde.

Der Landesbischof erinnerte in seinem Bericht vor der Landessynode an die im vergangenen Jahr begonnenen Diskussionen über das Familienpapier des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): „Ich habe den Eindruck, dass die Orientierungshilfe des Rates der EKD wie ein ‚Machtwort‘, eine Wahrheit ‚ex cathedra‘, angesehen wird, was entsprechend heftige Reaktionen der Abwehr oder der Zustimmung hervorruft. Es soll eine höhere und am besten eine höchste Instanz geben, die sagt, wo’s lang geht.“ Die „Orientierungshilfe“ habe aber das Versprechen nach klarer Orientierung gar nicht einlösen können, erklärte Ulrich. „Denn ein solches Versprechen widerspricht dem Wesen der evangelischen und erst recht unserer evangelisch-lutherischen Kirche.“

In seinem Bericht mahnte der Landesbischof der Nordkirche „mehr Realitätsbewusstsein“ an. So sei es mittlerweile Realität, „dass wir von außen, in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, aber auch im Bewusstsein vieler Menschen nicht mehr als ‚Volkskirche‘ wahrgenommen werden.“ Am Selbstverständnis der evangelisch-lutherischen Kirche habe sich nichts geändert „und wird sich nichts ändern: Wir wollen nicht nur für einige da sein, sondern als Gemeinde Jesu Christi und als Landeskirche wollen wir für alle da sein, die in diesem Land mit uns leben! Und wir bleiben auch darin Volkskirche, dass wir Kirche für all diejenigen sind, die sich für dieses Land bewusst entschieden haben“, sagte Gerhard Ulrich. Aber die Außenperspektive habe sich dramatisch verändert: „Im Blick von außen hat unser Selbstverständnis, Volkskirche zu sein, seine Plausibilität verloren.“

Zum Thema „Bedeutungsverlust“ müsse differenziert argumentiert werden. „Es mag sein, dass in der Wahrnehmung vieler Menschen die Kirche als Institution an Bedeutung verliert. Aber wenn wir in diese Analyse einfach nur einstimmen, wenn wir sie auch als Binnenüberzeugung übernehmen, dann erst erfüllt sich die Rede vom Bedeutungsverlust“, so Ulrich. „Es kommt darauf an, dass wir selbst überzeugt sind, bedeutend zu sein für diese Gesellschaft, unverzichtbare Stimme in den Debatten der Zeit. Daran haben wir zu arbeiten, theologisch, seelsorgerlich, lehrend: selbst-bewusst!“

Die Kirche werde ihre Identität nicht darin finden, „dass wir diejenigen, die nicht zu uns gehören und nicht zu uns gehören wollen, als defizitär betrachten. Sondern wir werden wahrnehmen müssen: Auch die, die nicht zu uns gehören, erkennen durchaus, wie wichtig wir als Kirche für einzelne und für die Gesellschaft insgesamt sind. Da bekommt der Begriff ‚Volkskirche‘ plötzlich eine ganz neue Bedeutung: Kirche als Minderheit für alle; sie ist nicht identisch mit der Bevölkerungszahl, sondern bedeutsam für die Bevölkerung, egal ob Kirchenmitglied oder nicht.“