Lettre International Nr. 90 / Neue Ausgabe
Nun liegt die 99. Ausgabe von Lettre International für Sie bereit – im gut sortierten Buchhandel, am Kiosk oder ab Verlag. Wir freuen uns, Ihnen ein interessantes, reichhaltiges und inspirierendes Heft für die etwas kälteren, dunkleren Wintertage präsentieren zu können. In der Winterausgabe entfaltet sich ein konzeptioneller Augenschmaus des deutschen Künstlers Franz Erhard Walther sowie eine atemberaubende Photoreportage aus Vogelperspektive zur Gefährdung der Meere von Daniel Beltrá. Der Lettre-Tisch ist in dieser Jahreszeit der Feste besonders bunt und liebevoll gedeckt – duftende Kuchen und Leckerbissen aller Art erwarten Sie! Lassen Sie sich überraschen!
www.lettre.de.In den Zeiten, in denen das Zeitungssterben um sich greift, ist Lettre International besonders auf die Verbundenheit seiner Leser und Anzeigenkunden angewiesen und möchten die Gelegenheit nutzen, daran zu erinnern, daß Lettre auch ein anspruchsvoller Werbeträger ist. Bis zum 31. Januar 2013 noch gilt das unwiderstehliche Angebot: TAKE FOUR! Buchen Sie für 2013 vier Anzeigen und bezahlen Sie nur drei! (Zusätzlich erhalten Sie gegebenenfalls einen Verlags- oder Kulturrabatt von 5 %).
LETTRE INTERNATIONAL 99 – INHALT
Leben und Literatur
In seiner Geschichte Wale aus anderen Zeiten meditiert der im April 2012 verstorbene große italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi über Wahrheit und Imitation, Erinnerung, Betrug und literarische Erfindung und erliegt den Verführungen der Erzählkunst: Eine Dame, die sich auf der Durchreise befindet, fordert einen jungen Walfänger auf, zu betrügen. „Und er betrügt. Seinen Vater, den Beruf seiner Väter, sein Zuhause, seine Herkunft, mit einem Wort alles; er wird Sänger in einer zwielichtigen Bar. Er wird abtrünnig. Und eines Tages muß er feststellen, daß ihn die Person, die ihn aufgefordert hat zu betrügen, ihrerseits betrügt, und sein Betrug umsonst gewesen ist.“ Er ertappt seine Dame dabei, daß ein Matrose ihr Gesellschaft leistet, holt von zuhause seine Harpune und ersticht sie. Warum hat er sie nicht schon an Ort und Stelle erwürgt?
„Ein Genie der Narratologie hat gesagt, wenn in einer Erzählung oder auch in einem Film ein Gewehr an der Wand hängt, wird früher oder später damit geschossen, da ist nichts zu machen. Schauen Sie, ich habe in meinen Büchern eine Ewigkeit lang Gewehre an die Wand gehängt, ohne einen Schuß abzufeuern, aber diesmal habe ich mich dazu entschlossen, ich habe die Grammatik befolgt, der Walfänger hatte an einem Haken eine scharf geschliffene Harpune hängen, sie stand zu meiner Verfügung, ich konnte dem Grammatiker ein wenig Stoff zum Kauen geben, ich habe der Versuchung nachgegeben, hin und wieder muß man im Leben etwas Gutes tun. Und ehrlich gesagt, habe ich es auch ein wenig für sie getan, für die arme Frau“.
RELIGION, GELD, REPUBLIK
Identitätspanik kennzeichnet unsere heutige Gesellschaft, so der tschechische Philosoph Václav Belohradský.
In Soziologie der modernen Gesellschaft war das „Theorem der Säkularisierung“ wesentlich: Die Moderne impliziert die Akzeptanz einer ungewissen historischen Zeit, aus der es kein Entrinnen in die Ewigkeit gibt. Der moderne Mensch muß sich zwischen immer mehr und immer widersprüchlicheren Möglichkeiten entscheiden und kann keine seiner Entscheidungen mehr mit dem Verweis auf ewige „geschichtsübergreifende Wahrheiten“ begründen. Auf die postmoderne Gesellschaft scheint das Theorem der Säkularisierung jedoch keine Anwendung mehr finden zu können. Die Globalisierung hat die geschichtliche Zeit überlastet und unter ihrem Druck entsäkularisiert sich Europa. Die Abwendung von der Vernunft und eine Rückwendung zur „religiösen Identität“ sind die Konsequenzen.
Neben dem „postbipolaren Chaos“ nach dem Ende des Kalten Krieges erleben wir ein „postprofessionelles Chaos“ – den Niedergang der Arbeit als Beruf und als Quelle von Identität, Anerkennung und Selbstvergewisserung. Auch der Multikulturalismus trägt zum Chaos bei: Er postuliert Anerkennung für Identitäten, ohne daß diese sich noch der Kritik im öffentlichen Raum aussetzen müßten. Damit hat es den universalisierenden Kritizismus geschwächt, ohne den eine Integration in die Gesellschaft rationaler Individuen nicht möglich ist. Eine aufgeklärte Gesellschaft hingegen braucht Anerkennung aus dem kritischen, argumentativen Geist der Kultur. Die durch diese Prozesse ausgelöste Unsicherheit wird übertönt von einem neuen „Willen zum Glauben an Gott“, dem Versuch, dieser Identitätspanik durch die Rückkehr zu jenen Formen der Ordnung zu begegnen, die dem Chaos, das sie ausgelöst hat, vorausgegangen sind. Eine skeptische, luzide Diagnose unserer Zeit.
Gerhard Gamms Essay Das metaphysische Bedürfnis fragt nach der „Rückkehr der Götter und anderer zwielichtiger Gestalten“. Gibt es nicht doch eine anhaltende anthropologische Sehnsucht nach dem, was über die Welt, wie sie ist, oder wie wir sie kennen, hinausgeht? Ist nicht Religion vielleicht die (beste) Antwort auf diese Sehnsucht? Zeugt nicht das Wiedererwachen eines vielfältigen religiösen Bewußtseins – das sich vom reichen Nordamerika bis in die Slums der Mega-Citys der Dritten Welt beobachten läßt -, davon, daß die weltlichen Sinnanversprechen der Aufklärung, des Humanismus, des Sozialismus und des Nationalismus, des (Neo-)Liberalismus oder des Kommunitarismus kaum je eingelöst wurden?
Es scheint, dass die großen säkularen Rahmenerzählungen der modernen Welt ihre sinnstiftenden Versprechen nicht einhalten konnten; den Platz von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und Erziehung versuchen die Religionen nun erneut einzunehmen. Mit ihrem Versprechen einer Selbst- und Sinnerweiterung durch religiöse Erfahrung scheint sie mit der Unwirtlichkeit einer entzauberten Welt besser zurechtzukommen als die Programme, die auf innerweltliche Zwecke setzen. Was ist dran an dieser Behauptung einer „Wiederkehr der Religion“?
Heute steht, so Gamm, weder der Wunsch nach Offenbarungswahrheit noch nach Wissen um letzte Bedeutungen im Vordergrund, sondern ein Bedürfnis nach Orientierung. Die metaphysischen Fragen bleiben erhalten, stellen sich jedoch anders. Es ist eine Interessenverschiebung von den letzten zu den vorletzten Dingen zu beobachten. Es sieht so aus, als sei es für unsere individuelle und kollektive Triebökonomie nicht so wichtig, ob Gott existiert oder nicht, eher, ob man auf überweltliche Mächte rechnen kann, über die das eigene, schwer durchschaubare Leben in Ansätzen strukturierbar bleibt. Man operiert in seinen mentalen Bilanzen in gewisser Weise mit einem höheren Wesen, auch wenn man hinsichtlich seiner Existenz nicht sicher zwischen Realität und Fiktion unterscheidet. Was sich entwickeln könnte, ist eine „Metaphysik von unten“, ein „Denken über sich selbst hinaus, ins Offene.“
Elektronische Börsen im Mikrosekundentakt beobachtet Donald Mackenzie – und entdeckt Beunruhigendes: Der Parketthandel, dieses „Gedränge schwitzender, schreiender und gestikulierender Körper“, wurde abgelöst durch den Hochfrequenzhandel mit Computern, die in Tausendstelsekunden ihre Orderaufträge ändern, je nach Marktlage, die in Realzeit erfaßt wird. Kauf- und Verkaufsaufträge ändern sich im Millisekundentakt, gesteuert durch Algorithmen, deren Handelsstrategien die Konkurrenz mit algo-sniffing auszuspähen und zuvorzukommen sucht. Die automatisierten, elektronischen market maker übertrumpfen sich gegenseitig – bis plötzlich eine Crash-Spirale entsteht, so geschehen am 6. Mai 2010: Innerhalb kurzer Zeit lagen die irrwitzigen Kursschwankungen am Anschlag, einige Titel waren bis auf einen Cent nach unten gefallen, andere rasten in die Höhe bis zum Maximalwert von 99 999,99 Dollar je Aktie. Als Ursache machte die Börsenaufsicht den Handel mit Future-Kontrakten aus – und gab sich mit einem automatischen Stop-Mechanismus zufrieden, der Menschen anstelle der Maschinen fünf Sekunden Zeit läßt, um die Situation zu „überdenken“ und „Vertrauen wiederzugewinnen“. Doch Systeme, die gleichermaßen eng gekoppelt wie auch hoch komplex sind, sind gefährlich. Hohe Komplexität in einem System erfordert Zeit, um in Schieflagen richtig zu reagieren; enge Kopplung bedeutet, daß man diese Zeit nicht hat. Das Kreditsystem, welches 2007/08 so spektakulär zusammengebrochen ist, erholt sich langsam, aber die Regierungen haben sich noch nicht mit den systemischen Fehlern befaßt, die zu der Krise geführt haben. Der Aktienhandel ist ein solches System. Bislang wurde wenig getan, um sicherzustellen, daß sich solche Krisen nicht wiederholen können.
Ekkehart Krippendorffs überraschende Neuinterpretation von Goethes Dichtung und Wahrheit sieht diesen Text geprägt vom Geiste einer bürgerlichen Gleichheitsethik und vom Wunsche einer Begegnung auf Augenhöhe mit Menschen aller Klassen und Schichten in wechselseitigem Respekt. „Das Herrliche und Erhebende unserer Vaterstadt bestehe (darin), daß alle Bürger sich einander gleich halten dürften, und daß einem Jeden seine Tätigkeit nach seiner Art förderlich und ehrenvoll sein könne …“ Die Festnahme Voltaires auf Geheiß des Preußenkönigs Friedrich II. in Goethes Vaterstadt Frankfurt hingegen gilt ihm als abschreckendes Beispiel absolutistischer Willkür. Aus solchen Jugenderlebnissen und Goethes Erfahrungen als Finanz- und „Abrüstungs“-Minister des Herzogs von Weimar erwuchsen die „Maximen“ als Grundlage einer ethischen Haltung „für ein gedeihliches, friedliches Zusammenleben in wechselseitiger Förderung“. … Der Dichter dachte an eine Bürgergesellschaft, die vom „Höchsten bis zu dem Tiefsten, von dem Kaiser bis zu dem Juden herunter die mannigfaltigste Abstufung aller Persönlichkeiten anstatt sie zu trennen zu verbinden schien“. All das war untergegangen in den Kriegen, der Französischen Revolution, unter napoleonischer Herrschaft, aber statt eines Abgesangs auf diese Werte setzt der Geheime Rat den Tagebucheintrag „Regieren!!“ – mit Weimar als „kleinerer Option republikanischer Erneuerung angewandter Aufklärung“. Aus Goethes Bildungsmärchen entsteht ein veritables Lehrbuch zur politischen Kultur.
ARABISCHE PERSPEKTIVEN
„Finsternis senkt sich über die arabische Welt. Verschwendung, Tod und Zerstörung begleiten einen Kampf um besseres Leben. Außenseiter konkurrieren um Einfluß, alte Rechnungen werden beglichen. (…) Es ist ein Gerangel um die Macht entbrannt, ohne klare Regeln und Werte, ohne absehbares Ende; weder die Ablösung eines Regimes noch dessen Überleben werden einen Schlußstrich darunter ziehen. Die Geschichte bewegt sich nicht vorwärts; sie rutscht seitwärts weg.
Es kommt zu Spielen innerhalb von Spielen: Aufstände gegen Autokraten, der konfessionelle Zusammenstoß von Sunniten und Schiiten, regionales Machtgerangel, ein kalter Krieg unter neuen Vorzeichen. Nationen zerbrechen, Minderheiten erwachen, wittern eine Chance, sich restriktiver staatlicher Fesseln zu entledigen. Das Bild ist verschwommen.“ Die Nahost-Experten Hussein Agha und Robert Malley vertreten in einem großen Essay zu den Umbrüchen in der arabischen Welt die Überzeugung: Der Islamismus lebt auf – von Revolution kann keine Rede sein. „Die Muslimbrüder, noch gestern vom Westen als gefährliche Extremisten verworfen, sehen sich heute als vernünftige, nüchterne Pragmatiker gefeiert und allenthalben begrüßt. Die eher traditionellen Salafisten, ehedem allergisch gegen jede Politik, können es heute kaum erwarten, sich den Wählern zu stellen. Darüber hinaus finden sich undurchsichtige bewaffnete Gruppierungen und Milizen von zweifelhafter Loyalität und Provenienz ebenso wie Kriminelle, Straßenräuber, Entführer und Gangs.
Was Bündnisse anbelangt, geht es drunter und drüber (…) So stellen sich theokratische Regime hinter Säkularisten, reden Tyrannen der Demokratie das Wort, verbünden die USA sich mit Islamisten, befürworten Islamisten die militärische Intervention durch den Westen. Arabische Nationalisten stellen sich auf die Seite von Regimen, die sie lange bekämpft haben; Liberale suchen den Schulterschluß mit Islamisten, um ihnen im nächsten Augenblick an die Kehle zu gehen. Saudi-Arabien unterstützt Säkularisten gegen die Muslimbrüder und Salafisten gegen Säkularisten. Die USA wiederum bilden eine Allianz mit Irak, der seinerseits mit Iran liiert ist, der hinter dem Regime in Syrien steht, bei dessen Sturz man in Amerika mitwirken zu können hofft. Darüber hinaus pflegen die USA sowohl ein Bündnis mit Katar, das die Hamas subventioniert, als auch mit Saudi-Arabien, das die Salafisten finanziert, die wiederum die Dschihadisten inspirieren, welche Amerikaner töten, wann immer und wo es nur geht.“
Und wo sind die nichtislamischen progressiven Kräfte geblieben? Werden sie irgendwann eine neue Chance bekommen? War das letzte Jahrhundert ein Irrtum für die arabische Welt, eine Abweichung vom vorgegebenen islamischen Weg? Oder ist das augenblickliche Wiederaufleben des Islamismus eine Anomalie, ein vorübergehender Rückfall in eine längst überholte Vergangenheit? Welches ist der Umweg, welches ist der natürliche Weg?“
Etel Adnan ist Dichterin, Philosophin, Dramatikerin und Malerin. 1925 wurde sie geboren. Ihr aus Damaskus stammender muslimischer Vater war der letzte Gouverneur des Osmanischen Reiches in Smyrna, ihre Mutter griechisch-orthodox. Nach der Zerstörung der Stadt 1923 emigrierte die Familie ins französische Mandatsgebiet „Paris der Levante“. Adnan wurde Geboren in Beirut. Zu Hause sprach sie Türkisch und Griechisch, auf der Straße Arabisch, in der Schule Französisch. Später lehrte sie Philosophie in den USA. Ihrem Leben ist das Drama des Nahen Ostens eingeschrieben. In einer großen tour d’horizon erzählt sie aus ihrem Leben als arabische Kosmopolitin, vom Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und den falschen Versprechungen der arabischen Unabhängigkeit durch Lawrence von Arabien, von der Neuaufteilung des Nahen Ostens in französische und britische Einflußzonen nach dem Ersten Weltkrieg, von der Vertreibung der Griechen aus Smyrna 1922, von der Mißachtung des griechischen Widerstands gegen die Nazibesatzung und der Privilegierung der Türkei als westlicher Bündnispartner, vom faszinierenden Beirut als dem „Paris des Nahen Ostens“ der zwanziger- und dreißiger Jahre, vom Libanon eines nicht enden wollenden Bürgerkriegs mit seinen Interventionen von außen; von Macht und Geld, von arabischem Stolz und Stammesdenken, von der „Teile und Herrsche“-Politik des Westens, von finsteren Machtfiguren und westlicher Doppelmoral, von islamischem und christlichem Fundamentalismus, von der Misere der Region und dem Mentalitätswandel, der erforderlich ist, um eine Entwicklung auch der arabischen Gesellschaften möglich zu machen. Und sie spricht über die Hoffnungen, welche auf den Schultern der Frauen und der Kultur ruhen.
ERLEUCHTETE REISEN – VON SAND UND MEER
Eine trunkene Reise unternimmt Bora Cosic entlang niederösterreichischer Landschaften mit ihren gewaltigen Donauwindungen und ihrem bunten Muster aus Obst- und vor allem Weingärten, in einem herrlichen Herbst mit unübertrefflichen Früchten und von enzyklopädischer Tiefe. Die Wachau oder Mähren dürfen als Heimat der Veredelungskunst großer Reben und auch von Menschen gelten, doch ist diese Landschaft auch trunken von Vergangenheit und habsburgischer Geschichte. Der Reisende beobachtet, wie sich Menschen an berauschenden Getränken laben, ihn verführen Düfte und Stimmungen. „Überall in diesem Land werden Kuchen gebacken … Ich weiß nicht, was alles notwendig ist, um ein Produkt dieser Art zu etwas außergewöhnlich Verführerischem zu machen, aber ich bin sicher, daß es bei dieser Arbeit unerhörte Geheimnisse geben muß, dann Geduld und dazu menschliche Fröhlichkeit. (…) Man müßte schon einmal wissen, wieviel von etwas im Kuchen ist, das sich gegen jede Bosheit richtet, in ihm ist, scheint mir, alles dem Häßlichen, der Wut, dem Haß entgegengesetzt.“ Nachdem er unter Aprikosenbäumen den Honig der herbstlichen Jahreszeit geschlürft hat, führt uns Cosic ins Labyrinth Wiens, schildert die Manier der Wiener Secession, die Erfindung des modernen Designs, ägyptische Einflüsse im Handwerk und die Wiener „Kolonialwarenhandlungsstimmung“ sowie Wiens einstige Winnetousche Buntheit. Ob im Riesenrad des Praters, auf dem Wiener Ring oder im Dreivierteltakt des Walzers – Wien lebt vom Einkreisen und Ausschließen, ja vom Blutkreislauf in der Zeit. „Der Tango ist, sagen wir, die südliche, kreolische und südamerikanische Antwort auf das, was in Wien komponiert wurde; mit seinen Stakkati, seiner Melancholie und dichten Erotik stellt er ebenfalls ein Denkmodell her; der Walzer wurde indes geschaffen, um den Kreisel des Wiener und mitteleuropäischen Lebens von unlängst zu bestimmen. Und seines Todes vielleicht.“ Doch die Donau fließt, wie ein Blutkreislauf. Welch ein Donaubaedeker.
Wenn Wassili Golowanow Fauna und Flora in meist abgelegenen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion erkundet, folgt er Eingebungen einer von ihm entwickelten „Geopoesie“: Der russische Schriftsteller und Journalist versteht es, in seinen Reise-Essays Fäden aus Zeitgeschichte, Kultur- und Naturhistorie, Gesellschaftsstudien und geographische Exkursionen zu einer Topographie der Sprache seines jeweiligen Protagonisten zu verweben. Mit Chlebnikows Vögel porträtiert der Kenner der russischen Bürgerkriegs-Ära ein Zentralgestirn des russischen Futurismus, den Wanderer Welimir Chlebnikow, „Blumenpriester und Bolschewik“. Der Sohn eines passionierten Ornithologen erlauschte am Kaspischen Meer, inmitten von Weiden mit Wildkräutern, Heckenrosen und Hanf, die Lautmalereien der Vögel, hörte darin Sternensprache und Göttergekrächz. In Golowanows Lesart wiederum weckt die fein modulierte Phonetik von Zwitschern, Girren und Zirpen zugleich Erinnerungen an die Goldene Horde, Stenka Rasin und die Weisheit der Sufis. Mit geopoetischem Gespür führt er die Lettre-Leser an Begegnungspunkte der Kulturen, an magische Orte, wo ägyptische Gottheiten, persische Poeten und die russische Avantgarde aufeinandertreffen.
Heroische Störung – Kunst als Gegengift des Schreckens
Über Kunst und Macht, Utopie und Geschichte, Widerstand und Einsamkeit reflektiert der Künstler Mark Lammert. Sein faszinierendes Porträt verknüpft Ideen, Beobachtungen, Texte und Erfahrungen vier herausragender Künstler zu einem Drama der Kunst im „Zeitalter der Extreme“. „Corneliu Baba und Heiner Müller, Malaparte und Malraux verbindet: alle vier sind mit Bildern operierende Berichterstatter, Kriegsberichterstatter – André Malraux, berichtet von Verteidigungskriegen, Curzio Malaparte von Angriffskriegen, Heiner Müller von einem kalten Krieg und der rumänische Maler Corneliu Baba von einem latenten, anonymen Bürgerkrieg.“ Alle vier waren verstrickt in die Tragödien der Geschichte, den Kampf zwischen Diktatur und Kunst, den Willen zur Revolution und die Entleerung utopischer Ideen. „Sofort nach der Befreiung hattet ihr die Sympathien aller Intellektueller des Abendlandes, auch Amerikas, für euch“, polemisiert Malaparte 1948 an die Adresse der Kommunistischen Partei, „Und aus welchem Grunde habt ihr diese Sympathien verloren? Weil ihr die Notwendigkeit proklamiert habt, der Freiheit des Denkens und der künstlerischen Schöpfung Grenzen zu setzen […] Ihr Kommunisten habt die Manie, euch gar nicht bestehende Probleme zu erschaffen.“
„Auf der Suche nach dem neuen Menschen stoßen wir gleichzeitig auf den Menschen“, konstatiert Corneliu Baba. Lammert zeigt, wie Heiner Müller, Dramatiker im Kalten Krieg und der Maler Corneliu Baba im latenten Bürgerkrieg Rumäniens unter Ceausescu, angesichts der Permanenz des Schreckens um eine Kunst nach der Utopie kämpften, auf der Palette ihrer Farben, in der Dichte ihrer Formen. „Die Vorteile meiner Malerei sind aus dem Nachteil erwachsen, im Osten zu leben, aus dem Nachteil, an allen Albträumen dieser Epoche teilzunehmen, die mich obsessiv bis in meine Malerei hinein verfolgten. Meine Phantasie verlangte nach dem gewundenen Weg, nach der menschlichen Tragödie mit ihrer Brutalität, Gewalt und Feigheit, von der die Geschichte seit Jahrhunderten erfüllt ist.“ Wie Heiner Müller in der DDR sah auch Baba die Utopie gescheitert, mochte sich aber nicht einfach mit dieser Diagnose abgeben. Vertraut mit der Ikonenmalerei und den Geheimnissen byzantinischer Kunst, ausgebildet in der akademischen Tradition, paßte Baba zum sozialistischen Realismus, bis er seinen Ruhm in den Ring warf, um eine „Auseinandersetzung nicht der Bilder wegen zu führen, sondern durch Bilder“. Dem entspricht Müllers Verdikt: „Drama braucht Diktatur“. Kann Kunst das Gegengift sein zur Selbstvergiftung Europas durch unersättliche Akkumulation von Reichtum und Macht? Oder bleibt vielleicht doch nichts von den gewonnenen Partien der Künstler und es vollendet sich die Vergiftung?
Als herausragender Journalist und Dokufilmer (Pariser Journal, Personenbeschreibung), als Paris-Experte und Prominentenjäger vermag Georg Stefan Troller Berühmtheiten aus dem Kultur- und Geistesleben unerwartete Gedanken und Bekenntnisse zu entlocken. In seinen Vergegenwärtigungen schildert er Begegnungen mit Marlene Dietrich bei der Truppenbetreuung der GIs 1944 und später, vor ihrem Konzert im Pariser Théâtre de l’Étoile, Gespräche über Liebe und Gefühle: „Wo ist letztlich der Unterschied zwischen Männerliebe und Frauenliebe?“ „Männer wollen besitzen, Frauen wollen besessen werden.“ „Klingt ein bißchen altmodisch, viktorianisch?“ „Sagen wir, bei Männern spielt das Triumphieren eine Hauptrolle, Frauen suchen die Identifizierung des großen Gefühls mit sich selber. Anwesende immer ausgenommen.“ Ihr Mentor, Josef von Sternberg erzählt über ihre Karriere und ihre letzten Briefe, darunter einer an Liz Taylor: „Du hast großen Männern genug angetan. Jetzt schluck deine Diamanten runter und halt die Schnauze.“ In Kalifornien trifft der Autor vor Schwobs Drugstore Groucho Marx‚, der von seiner Karriere und seinem Abschied aus Hollywood erzählt: Ist es denn schwer, sich mit dem Altern abzufinden, Mister Marx?“ „Ach was, jeder kann alt werden, er muß bloß lang genug leben.“ Unerfüllbare Herzenswünsche der Verfechter der Freien Liebe entdeckt er bei tumultuösen Begegnungen in Pariser Café de Flore mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. In diesen Erinnerungen, die zum zeitgeschichtlichen Panorama werden, verrät der Erfinder des Pariser Journals auch einiges über seine eigene Biographie: Louis-Ferdinand Céline, den brillanten Pariser Schriftsteller und fanatischen Antisemiten führt Troller, der Gymnasiast, 1937 durchs „Rote Wien“ der Arbeitersiedlungen. Karl Valentin, dem Komiker, begegnet er 1945 als GI, der im Auftrag von „Radio München“ nach unbelasteten Mitarbeitern sucht – und auf Valentins Partnerin Liesl Karlstadt trifft: „Wie man ihn g’fragt hat, was er hält vom Hitler-Regime, wissen’s was seine Antwort war? I sag gar nix, das wird man doch noch sagen derfen.“ Mit Troller redet Valentin, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: druckreif.
MITTERNACHTSKINDER
Im zweiten Teil seines brillanten Indienporträts, Idee und Realität Indiens, widmet sich der Historiker Perry Anderson der Entwicklung des Landes von der Unabhängigkeit 1947 bis heute. Ein Land mit 30 Sprachen, heute 28 Bundesstaaten (1947 waren es 14), einer Vielzahl an Traditionen, Religionen, Kasten und sozialen Gruppen hat es geschafft, Stabilität zu bewahren. Doch abseits der Liturgie der dreieinigen indischen Werte von Demokratie, Säkularismus und Einheit – Indiens Ideologie – ist das Land von schweren Problemen geprägt. Die Einheit wurde immer wieder mit Gewalt und der Verhängung des Ausnahmeszustands durchgesetzt, Kaschmir militärisch erobert- „Im Tal der Skorpione ist die Kugel die einzige Antwort“, hieß es. Das Naga-Land wurde brutal annektiert. Es gibt bäuerliche Aufstandsbewegungen. Das Kastenwesen wurde niemals abgeschafft und ist gleichbedeutend mit der puren Negation aller Ideen von Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit, ein wahrer Käfig der Demokratie. Muslime werden in vielerlei Hinsicht benachteiligt. Megakorruption und Verwandtschaftsgefälligkeiten durchziehen die Verwaltung. Dynastien und Clans beherrschen ganze Parteien. Die Sicherheitsagenturen, eine Art Schattenstaat, umfassen zwei Millionen Mitarbeiter. Und der Säkularismus kleidet sich nicht selten in die Gewänder des Hinduismus. Und doch ist die „Idee Indiens“ nicht nur ein Mythengewebe. Die Koexistenz so vieler Sprachen, die Dauerhaftigkeit der parlamentarischen Regierungsformen, die Lebendigkeit des kulturellen Lebens, die Energie intellektueller Debatten und die Eleganz der besten gesellschaftlichen Umgangsformen – all dies bietet Anlaß zu Stolz. Aber die Realität der Union ist oft sehr viel dunkler. Die „Idee“ ist ein spät entstandener Mutant des indischen Nationalismus. Ist ein Staat einmal unabhängig aus dem antikolonialen Befreiungskampf hervorgegangen, wird das, was ein Diskurs des nationalen Erwachens war, gerne zu einer Form der Selbstberauschung. In Indien ist diese Gefahr groß – wegen der räumlichen Größe des Landes und der Umstände seiner Entstehung. Notwendig ist eine Distanzierung von den Totems einer romantisierten Vergangenheit und von deren Reliquien in der Gegenwart.
ZUKUNFTSMUSIK
Wagner in Rußland – weitgehend im Dunkel liegt die Rezeption des Komponisten dort, dabei führte er in St. Petersburg 1863 mit einem Orchester von 130 Musikern, darunter 24 erste Violinen, das Lohengrin-Vorspiel auf; Lohengrin erlebte 135, Tannhäuser 137 Aufführungen bis 1914. Der Ring wurde 1889 viermal aufgeführt. Wagners kompositorische „Zauberkunst“ begeisterte die russischen Symbolisten, seine Schrift Das Kunstwerk der Zukunft galt ihnen als Vision, wie die Kluft zwischen Volk und Intelligenz zu schließen sei. Meyerholds Interpretation von Tristan und Isolde war ein Meilenstein auf dem Weg zum modernen Regietheater, mit seiner Rienzi-Inszenierung setzt er 1921 Meilensteine seines antiillusionistischen Aktionstheaters. Da hatte der sowjetische Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski, seine Wagner-Begeisterung schon in die sozialistische Ära überführt, und zu Lenins Beisetzung erklang der Trauermarsch aus der Götterdämmerung. Stalin ließ 1940 die Walküre von Sergej Eisenstein inszenieren, welcher auf den Spuren des Wagnerschen Gesamtkunstwerks einer „synthetischen Verschmelzung von Emotion, Musik, Wirklichkeit, Licht und Farbe“ das Wort redet. Spurenelemente des musikalischen Magiers aus Deutschland finden sich sogar in Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita. Martin Gecks Studie zur atemberaubenden Karriere Richard Wagners in Rußland offenbart ein recht unbekanntes Kapitel deutsch-russischer Kulturgeschichte.
Der Pianist und Komponist Michael Wollny spielt so ungewöhnliche Musik, daß er 2007 in England zum „vielversprechendsten Newcomer des Jahres“ erklärt wurde. Mit Ralf Dombrowski spricht er über die Beziehungen zwischen Philosophie und Musik, über Existenzialismus, Freiheit und Determinismus, über Reflexion und Intuition und die Energien der Improvisation aus dem Mangel an Vorbereitung; über Studio- und Konzertmusik, Experiment und Inspiration, Gravitationskräfte des Moll und Gefühlsräume des Dur, über Mischpulte und Effektmaschinen, Tricks, Kniffe und Gestaltungstechniken – über Jazz als ständige Gratwanderung. Ist der Jazz tot, wenn man ihn nicht mehr mit Nachtclub, Saxophon, Zigarettenrauch, Schwarz-Weiß-Ästhetik und metaphysischem Dunkel verbindet? Wir erleben Grenzerfahrungen, Abgründe und Komik, den Reiz des Unheimlichen und Horror als Mittel, Energien freizusetzen, sich aus der Reserve zu locken, spielerisch verborgene Türen zu öffnen und sich selbst und andere zu überraschen: All that Jazz!
BRIEFE UND KOMMENTARE
Sergio Benvenuto nimmt Italiens ungewählte und oft als antidemokratisch kritisierte „technokratische Regierung“ Mario Montis zum Anlaß, um zu fragen: Muß Demokratie scheitern? Seine Antwort beginnt mit der Analyse von vier Schlüsselkonzepten der pluralistischen Demokratie. Die „holistisch-charismatische Version“ (wonach Demokratie von einem gewählten charismatischen Führer geleitet wird), die „linke Version“ (Demokratie als Instrument zum Kampf für wachsende Gleichheit) die „rechte Version“ (Demokratie basierend auf dem Unsichtbaren Gehirn) und eine Version, nach der Demokratie eine nützliches Werkzeug für Mitglieder der Machtelite ist, ihre internen Konflikte auszutragen. Die Sympathie des Philosophen und Psychoanalytikers gehört dem Streben nach Gleichheit – aber eine wirklich egalitäre Gesellschaft aufzubauen scheint dem homo sapiens schwerzufallen.
Ein neuer Eiserner Vorhang zieht sich durch Europa, nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd – so beginnt Pedro Rosa Mendes, langjähriger Angola-Korrespondent der Lissabonner Zeitung Publico die Chronik eines Verfalls: Vor wenigen Jahrzehnten noch koloniale Macht in Afrika, leidet Portugal heute unter Arbeitslosigkeit, Armut und Auswanderung. Während die Ölmilliardäre Angolas mit ihrem florentinischen Lebensstil und ihrer Finanzmacht Einfluß im Land ihrer einstigen Kolonialherrscher gewinnen, kehren die portugiesischen Kolonialherren von einst als Arbeitsuchende ins Ölparadies Angola zurück. Eine ganze Generation gebildeter Portugiesen findet zu Hause kein Auskommen mehr – es bleibt nur die Emigration. Die bittere Bilanz eines Landes, das einmal hoffnungsvoll nach Europa aufgebrochen ist. Portugal Finis terrae.
Von Geschäftsleuten, Daytradern, deutschen Ingenieuren, bosnischen Türstehern, Flugbegleiterinnen der Emirates und indischen Gastarbeitern in Dubai erzählt Martin Brinkmann in seinen Wüsten Träumen, einer irritierenden Kurzgeschichte über Globalisierung, weltweite Vernetzung, Armut und Reichtum, weltweite Verteilungskämpfe, arabische Unruhen, die Leere des Luxuskonsums, den Schrecken der Bilder- und Kapitalströme und den Zynismus als Abwehrrektion.
Einen akademisch korrekten Professor, der sich beim Verfassen einer Einleitung zu seiner Geschichte des Dritten Reichs in unterdrückten Gefühlen und der eigenen Vergangenheit verheddert und darauf im Keller seines Hauses einen unterirdischen Stollen aushebt, macht William H. Gass zum unsympathischen Protagonisten seines Romans Der Tunnel. Mehr als 16 Jahre arbeitete der US-Autor an seinem opus magnum – und schrieb in dieser Zeit „alle meinen anderen Bücher, um dieses Buch zu umgehen, so unangenehm war es mir“. Im Gespräch mit Sieglinde Geisel erklärt Gass, daß „die Herausforderung darin besteht, daß Schreckliche so schön darzustellen, daß der Leser sagt: Oh, das ist so wunderbar, das lese ich gleich noch einmal!“ Der Schriftsteller verrät uns, was die Musik der Sprache ausmacht und wie er in seinem Schreibprozeß philosophische Exkurse und schweinische Limericks zu jener Art von Literatur vereinigt, „die erst durch die Worte entsteht, mit denen sie erzählt wird.“
Die indische Schriftstellerin, Urvashi Butalia, prognostiziert, daß die Lebenswirklichkeit der Inderinnen in Zukunft völlig anders aussehen wird als bisher. In einem Land, das über eine der ältesten und dynamischsten Frauenbewegungen der Welt verfügt, gewinnt weiblicher Unternehmergeist an Terrain und erobert neue Tätigkeitsfelder, sogar auf höchster Ebene wie in der Industrie, im Bankwesen, im staatlichen Sektor oder im Kunstbetrieb. Frauen bekleiden hohe politische Ämter und Aktivistinnen setzen sich für den Umweltschutz ein. Frauen kämpfen gegen enorme Widerstände an, um ihr Leben selbstständig zu bestimmen. Dennoch nimmt die Gewalt an Frauen zu, je stärker die indischen Städte sich globalisieren und die Bevölkerung wächst. Entsetzliche Armut, Unterernährung, Tod im Kindbett, häusliche Gewalt, geschlechtsspezifische Abtreibungen gehören immer noch zur Wirklichkeit indischer Frauen: doch der Schleier fällt. Probleme werden aufgegriffen, und im ganzen Land arbeiten Frauen für ein besseres Leben.
Zwei prototypische Gestalten des ausgehenden „Amerikanischen Jahrhunderts“ beleuchtet Tom Engelhardt in seiner Korrespondenz Petraeus, Farce und Geschichte: Präsident George W. Bush hat die Gründe für den von ihm entfesselten Krieg gegen Irak schlicht erfunden. David Petraeus kam es darauf an, die Kriege in Irak oder Afghanistan der eigenen Bevölkerung „zu verkaufen“: Ein US-General trat nicht an, eine Schlacht zu gewinnen, er verlegte sich auf Medienoffensiven und die Eroberung der eigenen Hauptstadt Washington. Bald galt er dort als „Messias der Militärgeschichte“ – obwohl die von ihm verfaßte neue Armeedoktrin sich als uninspirierte Neuauflage der schon in Vietnam desaströs gescheiterten Counterinsurgency-Strategie entpuppte. Aber erst die Affäre mit seiner Biographin zwang „General Betray Us“ zum Rücktritt, wie Bush eine „Galionsfigur des amerikanischen Desasters, das in der Maske des Erfolgs einherging“.
Michail Ryklin widmet sich in seiner Korrespondenz aus Moskau einer Bruderschaft hinter Stahltüren. Seit Dostojewskij ist es in Rußland üblich, die Europäer des extremen Individualismus‘ zu zeihen und, folglich, der Umwandlung ihres Glaubens zu einen leblosen Ritual. Dabei wähnen sich die Bewohner des „orthodoxen Imperiums“, Träger des „brüderlichen Elements“, des Gemeinschaftlichen und sonstiger kollektivistischer Tugenden zu sein.
Doch wie sieht es mit dem pathetisch verkündeten Kollektivismus in Wirklichkeit aus? Das Wort „Volk“ ist den meisten heilig, was sie nicht hindert, ihren Nachbarn mit unverhohlenem Argwohn zu begegnen. Und so geht es von unten nach oben: das eine wird verkündet, getan wird etwas ganz anderes. Die Machthaber denken laut nur an den Dienst am Volke, in Wirklichkeit wissen sie nur wenig von ihm, denn sie sind mit eigener Bereicherung beschäftigt; die „staatliche“ Kirche predigt Demut, ist aber mit der Bedienung der Macht und Geschäftemachen voll ausgelastet.
25 Jahre Lettre International! Freuen Sie sich auf das Jubiläumsheft Nr. 100 im Frühjahr. Mit der Ausgabe 100 begehen wir im kommenden Frühjahr das 25. Jahr der Existenz von Lettre International.
Anlaß genug, diese 25 Jahre Revue passieren zu lassen – wir versammeln Stimmen und Kunst aus der ganzen Welt.
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