Natur: Vergessen? Erschreckende Befunde des Jugendreport Natur 2010 – Naturwissen extrem mangelhaft
Innerhalb weniger Jahre hat das Naturbild der jungen Generation gravierende
Veränderungen erfahren: Für viele geht die Sonne inzwischen im Norden auf, Hühner legen
drei Eier am Tag, Kühe haben elf Zitzen, aus dem Hirsch ist ein Reh und aus dem Kitz ein Kid
geworden. 3.000 junge Menschen im Alter von 11 bis 15 Jahren hat Dr. Rainer Brämer,
Natursoziologe an der Universität Marburg, in sechs Bundesländern befragt. Im sechsten
Report seit 1997 haben die Jugendlichen über 150 Fragen zum Naturverständnis
beantwortet. Unterstützt wurde er dabei vom Deutschen Jagdschutz‐Verband (DJV), dem
information.medien.agrar e.V. (i.m.a.) und der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW).„Dank Hollywood geht vielen Jugendlichen ‚Tyrannosaurus rex’ flüssiger über die Lippen als
,Rehkitz’, das auch mal schnell zum Hirschling wird“, so DJV‐Präsident Jochen Borchert. Es sei
erschreckend, dass jeder zweite Befragte den Nachwuchs des Rehbocks einem entfernten
Verwandten, dem Rothirsch, untermogeln wolle.
Gerd Sonnleitner, der Vorsitzender der i.m.a., fasste die Ergebnisse der Studie so zusammen:
„Eigene Erfahrungen können die Kinder und Jugendlichen kaum mehr sammeln. Was für
viele aus meiner Generation selbstverständlich war, nämlich im Sommer auf dem Bauernhof
zu helfen oder selbst im Garten zu arbeiten, fällt heute unter die Rubrik ‚exotisch’. Da
wundert es kaum, dass manche Kinder glauben, dass eine Kuh am Euter elf Zitzen hat oder
ein Huhn pro Tag mehr als sechs Eier legen kann“.
Nach Wolfgang von Geldern, Präsident des Waldschutzverbandes SDW, könnte das
Eichhörnchen der neue Super‐Mario sein, denn im Wald ist viel los. „Der Wald ist ein
Abenteuerspielplatz für unsere Kinder, wie es in Deutschland keinen zweiten gibt. Hier
können sie toben, aber eben auch viel lernen und das spielerisch und nebenbei“, erklärte
SDW‐Präsident Dr. Wolfgang von Geldern.
…
JUGENDREPORT NATUR 2010
Das Thema „nachhaltiges Verhalten“ ist bei den Jugendlichen trotz intensiver Bemühungen
durch die UN‐Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ noch nicht ausreichend
angekommen. Die Mehrheit der Jugendlichen verbindet Normen ökologischer Korrektheit
wie „keine Pflanzen ausreißen“ (71%) und „keinen Müll in den Wald werfen“ (86%)
fälschlicherweise mit nachhaltigem Handeln. Pflege, Ruhe und Ordnung dominieren, die
schonende Nutzung natürlicher Ressourcen ist weiterhin ein Tabu. Die über 200 Jahre alten
Inbegriffe für Nachhaltigkeit „Nur so viel Holz ernten wie nachwächst“ (65%) und „Tiere
jagen, ohne sie auszurotten“ (50%) erfahren deutlich weniger Zuspruch. Für die Natur
schädlich bewerten daher 70 Prozent der Befragten das Fällen von Bäumen und 67 Prozent
das Jagen von Rehen und Wildschweinen. Gleichzeitig sind sich Jugendliche nur teilweise der
Auswirkungen ihres eigenen Tuns bewusst: Immer das neueste Handy zu besitzen, hat für
knapp jeden zweiten Befragten keine schädlichen Auswirkungen auf die Natur. Der immense
Rohstoff‐ und Energiebedarf bleibt unerkannt.
Um dieser Naturentfremdung bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, engagieren
sich alle drei an der Studie beteiligten Organisationen in verschiedenen Projekten. Seit über
20 Jahren gibt es die außerschulische Bildungsinitiative Lernort Natur der Jäger. Dabei steht
der Revierbesuch im Wald im Vordergrund, bei dem Kindergarten‐ und Grundschulkinder im
Alter von 3 bis 10 Jahren die heimische Natur entdecken. Die deutsche Landwirtschaft lädt
mit Aktionen wie „Lernort Bauernhof“ oder „Tag des offenen Hofes“ ein, den Bauernhof live
zu erleben und so einen realistischen Blick in den Stall und auf die Felder zu werfen. Bei den
Waldjugendspielen der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) können Kinder und
Jugendliche mit Geschick, Beobachtungsgabe und detektivischem Spürsinn bestimmte
Aufgaben lösen, die sich im Zusammenhang mit dem Ökosystem Wald stellen.
Insgesamt nehmen an diesen Aktionen jährlich mehrer hunderttausend Kinder und
Jugendliche teil – aber immer noch zu wenig, wie die Ergebnisse der Studie zeigen. Alle
Verbände sind sich darin einig, dass die Aktionen weiter ausgebaut werden sollten. „Wir
müssen das immer abstrakter werdende Naturbild bei Jugendlichen umkehren. Sonst
scheitern wir mit der Zukunftsaufgabe Nachhaltigkeit“, sagte Dr. Rainer Brämer. Der
Nachwuchs müsse wieder hautnah erfahren, dass alle Lebensmittel und auch alle
Konsumprodukte letztlich aus der Natur kommen. Nur so ließen sich die Lebensgrundlagen
auf unserem Planeten langfristig erhalten.