Weihnachtslieder wirken wie Mannschaftssport – Soziologe: „Gemeinsames Singen hat wichtige soziale Aufgaben“
Liederbuch: Gemeinsam singen macht harmonisch (Foto: pixelio.de/Birgit)
Bielefeld (pte/22.12.2010/06:00) – Obwohl das gemeinsame Singen immer mehr abhanden kommt, erwacht rund um Weihnachten bei vielen ein Bedürfnis danach, Lieder anzustimmen. Der Wunsch kommt zu Recht, sagt der Soziologe Thomas Blank von der Universität Bielefeld http://www.uni-bielefeld.de im pressetext-Interview. „Beim Singen von Weihnachtsliedern lernen Menschen, miteinander auszukommen. Klingt es auch anfangs oft wie Gekrächze, so beginnt man nach spätestens zehn Minuten, miteinander musikalisch zu harmonieren.“Fest des Fühlendürfens
Sind Melodien und Texte von Weihnachtsliedern auch vorgegeben, bieten sie ihren Sängern doch großen Spielraum für Individualität. „Da man sich in Lautstärke, Tempo oder Stimmlage aufeinander abstimmen muss, vermittelt Singen ein Gemeinschaftsgefühl, das mit jenem eines Instrumentalorchesters oder auch von Mannschaftssport vergleichbar ist. Positiv ist dabei die Erfahrung, dass jeder seinen Platz findet und respektiert wird“, so Blank. Für diese soziale Funktion müsse allerdings auch das Umfeld „stimmen“ und von Zuneigung, Gewaltfreiheit und gegenseitigem Respekt geprägt sein.
Dass viele just zu Weihnachten gerne singen, kommt für Blank nicht von ungefähr. „Da Emotionen in unserer Leistungsgesellschaft kaum Platz haben, sehnen sich viele danach, wieder einmal fühlen zu dürfen oder geliebt zu werden. Weihnachten ist als ‚Fest der Liebe‘ sehr emotional, und auch Singen als ganzheitliche Form der Kommunikation spricht die Gefühle stark an.“ Für religiöse Menschen bedeute das Fest außer dem Gemeinschafts- und Kulturevent auch Zeit zur inneren Einkehr, wozu die Texte zahlreicher kirchlicher Weihnachtslieder eine Hilfe bieten.
Empathie und Gehirnentwicklung
Singen wirkt vielschichtig, betont der Forscher. „Es senkt Aggressionshormone und lässt Glück- und Bindungshormone steigen. Das fördert das Wohlbefinden von Menschen, was wiederum offener und empathischer gegenüber anderen macht.“ Auch die Gehirnentwicklung profitiert durchs Singen, zeigte Blank gemeinsam mit Medizinern aus Münster bei 500 Sechsjährigen. Unter den Kindern, die zuhause viel singen, sind 88 Prozent regelschulfähig, bei den Wenigsingern hingegen nur 44 Prozent. „Der Unterschied besteht auch dann, wenn man die soziale Schicht oder die Sportaktivitäten der Kinder berücksichtigt.“
Ob ein Kind singt oder nicht, entscheidet das Umfeld. „Günstig ist, wenn man als Säugling von den Eltern in den Schlaf gesungen wurde, zudem singen auch lange gestillte Kinder eher“, so Blank. Ein wichtiger Einfluss habe auch der Kindergarten, wo der Gesang jedoch immer mehr verloren geht. Nach 1968 flog er in Deutschland aus der Kindergartenausbildung – als Reaktion auf die Kritik der Liederpraxis im Dritten Reich. „Lieder vermitteln auch Heimat und Zusammengehörigkeit. Im Nationalsozialismus wurde das Volkslied dafür missbraucht, weshalb Adorno meinte: ‚Singen tut nicht not'“, berichtet der Forscher.
Traditionen neu entdecken
Seither ist das frühere Kulturgut Singen für den Soziologen im deutschen Sprachraum eine „Verlustgeschichte“, zu der auch Rationalisierung und Religiositätsverlust wesentlich beigetragen hätten. Das aufstrebende Nachahm-Singen á la ‚Deutschland sucht den Superstar‘ sei eher Selbstentfremdung statt Ausdruck eigenen Fühlens. „Heute besteht die Herausforderung darin, das klassische Volkslied wieder neu zu entdecken. Zwar muss man sehr wohl kritisch durchleuchten, welche Texte und Melodien eingänglich und gut sind. Aufgrund der vielen Vorteile zahlt sich diese Suche jedoch aus“, so Blank.