„Am Rande. Sechs Kapitel über AIDS in der Ukraine“

In der Ukraine ist ein Prozent der Gesamtbevölkerung HIV-infiziert, das sind eine halbe Million Menschen
Interview mit dem Filmemacher Karsten Hein
Frage:
Was hat Sie bewogen, nach „So wollen wir nicht sterben“ über Aids in Odessa einen weiteren Film über die Krankheit, ihre Folgen und Ursachen im ukrainischen Donezk zu drehen?
Nachdem wir die Umstände, unter denen die Aidskranken in Odessa leben, im ersten Film dargestellt haben, hatten wir das Gefühl, dass wir es dabei nicht bewenden lassen können. Wir wollten versuchen zu verstehen, wie diese Epidemie tatsächlich funktioniert. Wir wollten sie quasi in ihre Bestandteile zerlegen. Um zu sehen, wie sie entstanden ist, mit welchen gesellschaftlichen Umständen sie verknüpft ist, welche Auswirkungen sie hat – um letztendlich auch zu erforschen, wie man dort etwas verändern kann.Frage
Was wollen Sie konkret verändern?
Wir sind in die Ukraine gekommen, weil wir gehört haben, wie die Aidskranken dort leben. Je mehr wir uns damit beschäftigt haben, desto deutlicher haben wir gesehen, dass die Epidemie ein Symptom einer gesellschaftlichen Lage ist, einer humanitären Katastrophe letztendlich.
In unsrem neuen Film haben wir das Problem in Kapitel aufgefächert:
1. Die Drogen: Die meisten Menschen infizieren sich dort ja nach wie vor über Spritzen – welche Drogen gibt es dort überhaupt? Es gibt in der Ukraine eine halbe Million Drogensüchtige. Wie leben die? Dann Drogenhandel und Korruption – es ist da übrigens ein offenes Geheimnis, dass die Miliz in den Drogenhandel verwickelt ist.
2. Prostitution: Fast alle Frauen, die drogenabhängig sind, gehen auf den Strich.
3. Zwangsarbeitslager: In der Ukraine sitzen immer noch 200.000 Menschen in Lagern ein. Und da drinnen herrschen immer noch verheerende Zustände und in den Lagern gibt mehr Drogen als draußen.
4. Die Armut: Der Anfang der epidemischen Drogensucht liegt 1991. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine begann der wirtschaftliche Niedergang.
5. TBC: Das ist die dritte Epidemie! Drogensucht, AIDS, Tuberkulose – diese Drei gehen zusammen. Und das ukrainische Gesundheitswesen ist völlig überlastet.
6. Die Waisen: Es gibt dort sehr viele Familien, in denen die Erwachsenengeneration weggestorben ist. Wo nur noch Großeltern und Kleinkinder leben. Und viele Kinder sind selbst infiziert
Es gibt kein eigenes AIDS-Kapitel, denn in all diesen Bereichen haben wir Aids-Kranke getroffen. Genauso wie die Menschen in allen Kapiteln arm sind und drogensüchtig oder betroffen von Angehörigen, die drogensüchtig sind. Und sehr viele von ihnen haben auch das Lager hinter sich.
Die Ukraine ist eine Gesellschaft im Umbruch, im Zerfall.
Man kann in all diesen Bereichen aktiv werden.
Aids als Thema bietet sich deshalb an, weil es ein Problem ist, das bis in den Westen Europas reicht und es hier auch starkes Interesse geben müsste, der Epidemie Einhalt zu gebieten.
FRAGE
Wie war die Reaktion auf Ihren ersten Film in punkto Hilfsmaßnahmen für die Kranken in der Ukraine?
Es gab verschiedene kleinere Hilfslieferungen, wo Medizintechnik und Versorgungsgegenstände geschickt wurden. Und es gab vor allen Dingen in der Politik eine Richtungsänderung. Noch vor zwei, drei Jahren haben sich die europäischen Länder mit Hilfe sehr zurück gehalten.
Wohl auch, weil es um das Gesundheitswesen eines fremden Landes ging.
Inzwischen betrachtet die Bundesregierung Aids in Ost-Europa als eine der Herausforderungen der Zukunft. Sie hat jetzt auch endlich angefangen, Geld dafür auszugeben. Und man plant im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Also bilaterale Verträge mit der Ukraine zu schließen.
Frage
Was ist Ihre Hoffnung nach dem neuen Film?
Wir versuchen ja zu zeigen, dass Aids kein Problem ist, das man isoliert betrachten kann. Nach unserer Meinung war es ein Fehler der EU, die Mitgliedschaft der Ukraine grundsätzlich kategorisch abzulehnen. Anstatt ihr zumindest eine Perspektive zu signalisieren. Wenn die EU das im Sinne einer Partnerschaft revidieren könnte, wäre schon etwas getan.
Zur Zeit bräuchten rund 60.000 Patienten die antiretrovirale Therapie, um ihr Leben zu verlängern. Nur 4000 bekommen sie, 6000 sollen es bis 2008 sein – und das nur aus Mitteln des Global Fund, darüber hinaus ist absolut nichts geplant. Konkret heißt das, es werden sehr sehr viele Menschen sterben.
Es müsste also realisiert werden, dass man viel mehr Medikamente braucht. Es sollte verstärkt auch auf billigere Generika gesetzt werden. Lebenswichtig für die Kranken wären insgesamt mehr Finanzmittel – sowohl von internationaler, als auch von ukrainischer Seite.
Notwendig ist auch eine erweiterte Ausbildung der Mediziner im Einsatz der Anti-Retroviralen-Therapie.
Da das alles relativ lange brauchen wird, ist es ratsam, parallel die Strategie einiger realistischer Mediziner und humanitärer Organisationen weiter zu verfolgen, Aids in Gestalt der opportunistischen Krankheiten zu behandeln. Diese zu behandeln, um den Kranken ein möglichst langes, Beschwerde freies Leben zu ermöglichen, ist im Moment wahrscheinlich der realistischere Ansatz.
Dazu gehört dann aber auch, in der Ukraine eine Pflegeausbildung einzuführen. Es gibt in der russischen Tradition nämlich überhaupt keine Krankenpflege – das machen da die Angehörigen. Da ist AIDS vielleicht ein sehr guter Ansatzpunkt, um das überhaupt einzuführen.
Schließlich braucht es auch Hospize. Die Leute sterben ja schließlich.
FRAGE
Wie gehen Sie persönlich mit den schockierenden Erlebnissen mit den Menschen in der Ukraine um?
Je mehr wir versucht haben dort etwas zu verbessern – und es sind ja nicht nur die beiden Filme, sondern auch unsere humanitären Projekte, die ihren Beitrag leisten -je mehr man also etwas dagegen tut, desto weniger schwer ist es, das alles auch zu ertragen.
Die gute Erfahrung ist: Wenn man gegen ein solches Leid angeht und etwas dazu beiträgt, es zu lindern, ist es schlicht und ergreifend weniger schwer, als wenn man daneben steht und ein Gefühl hat, nichts tun zu können.










