Kultur & Wissenschaft

Dr. phil. Peter Guttkuhn: „202 Jahre lübeckisches Dorf und Gut Moisling“ – Teil 3

Dr.-Guttkuhn
Heute setzt hier-luebeck die Vorstellung der Publikationen des in Lübeck arbeitenden Privatgelehrten und Historikers Dr. Peter Guttkuhn in der Reihe „Sonntags-Beiträge“ mit dem 3. Teil des begonnenen „Drei-Teilers“ fort.

Foto (RB): Dr. Peter Guttkuhn
202 Jahre lübeckisches Dorf und Gut Moisling
3. Teil

Lübecks erstes „Addreß=Buch nebst Lokal=Notizen und topographischen Nachrichten für das Jahr 1798“ informierte seine Leser im Stil der Zeit: „Zu einem Spaziergange von einigen Stunden oder zu einer Lustfahrt findet man einen sehr unterhaltenden Weg außerhalb des Mühlenthors nach den Dörfern Genin und Moisling (an letzterem Orte, wo viele Judenfamilien wohnen, ist ein Kaffeehaus) und von da in das Holstenthor zurück, auf welchem man, von verschiednen mit Eichen besetzten Anhöhen herab, die Krümmungen der Trave, den Finkenberg, die Stadt im Hintergrunde, die angenehme Lage der beyden Dörfer selbst, an den Ufern der Trave und Stecknitz, und andre reizende Aussichten, insbesondre auch auf dem Rückwege, die Entstehung der Stecknitz aus der Trave gewahr wird“.

Die königliche Verordnung des aufgeklärten Kronprinzregenten Friedrich vom 19. 12. 1804, wonach auf den adligen Gütern in Schleswig und Holstein mit Wirkung vom 1. Januar 1805 die Leibeigenschaft (Schollengebundenheit) mit allen unangemessenen Diensten „gänzlich und auf immer abgeschafft“, aufgehoben sein sollte, führte auf Gut Moisling vorerst zu keinen erkennbaren Konsequenzen. Tatsächlich mussten Moislinger Bauern (Hufner, Parzellisten, Kätner, Insten) und Einwohner (unterprivilegierte [Dorf-]Bewohner gegenüber städtischen Bürgern) bis 1810 Hand- und Spanndienste leisten: Fünf Bauern hatten jeder 12 Tage (10 Stunden einschließlich der Pausen pro Tag) im Frühjahr und acht Tage im Herbst zu dienen. Und von der Sommerernte berichten die Liegenschaftsakten des Guts: „Die 4 Koppeln mit Sommer Korn werden von den christlichen Einwohnern aufgebunden. Hierunter sind 5 Juden Wohnungen mit begriffen, als Moses Liepmann, Heyman Hirsch, Samson und Moses Wulff, Wulff Alexander, Meyer Jacob Wittwe … Die Binder erhalten für 4 Koppeln mit Sommer Korn für jede Koppel 1/2 Tonne Bier“.

An einer anderen Stelle heißt es „von denen Bauren und Einwohnern hier in Moisling betr. gewöhnliche Hofdienste: In der Korn Erndte müssen alle die Christen wie auch der Jude Wulff das Sommer Korn aufbinden, wofür 21/2 tonne Biehr und ein Reichstaler als Krantz-Geld gegeben wird“. Unter einer Moislinger „Tonne Bier“ haben wir uns ein Faß mit 150 Litern vorzustellen. Wer, wann, wie viel und welche Dienstpflicht zu leisten hatte, das hing ab von dem Haus, in dem der Guts-Untergehörige lebte, an der Art der historischen und persönlichen Abmachungen und Verträge, die seiner Wohnung „anklebten“.

Die Güter Moisling, Niendorf, Reecke werden 1806 lübeckisch

Am 30. April 1806 schrieb der dänische König einen Brief („Patent‘) an den Gutsbesitzer und alle Untergehörigen des Guts Moisling: „Wir Christian der Siebente … entbieten dir, dem Rathsverwandten Matthäus Rodde zu Lübeck als Besitzer des Guts Moisling … Unsere Gnade und fügen euch zu wissen“ … [es folgt der Sachverhalt des Vergleichs-Vertrags] … Und der König schließt mit den Sätzen: „So haben Wir euch solches mittelst dieses Briefes nicht nur in Gnaden eröffnen, sondern euch auch Kraft dieses anbefehlen und dahin anweisen wollen, daß ihr von nun an Bürgermeistere und Rath der Reichsstadt Lübeck als eure alleinige Landesobrigkeit erkennet und derselben hinführo alles dasjenige getreulich leistet, was ihr vermöge der euch obliegenden Pflichten Uns und Unseren Vorfahren in der Regierung zu leisten bisher schuldig gewesen seyd, als wes Endes Wir euch samt und sonders, eurer bisherigen Uns und Unseren Erben schuldigen Pflichten hiedurch entbinden, und euch von deren weiteren Erfüllung lossprechen. Wornach sowohl du als die Untergehörigen des vorbenannten Guts sich allerunterthänigst zu achten“.

Am Dienstag, dem 17. Juni 1806, mußten alle in Moisling wohnenden Familienvorstände auf dem Gutshof des Ratsherrn Rodde erscheinen. Der Justitiar des Patrimonialgerichts, Lizentiat Dr. Ludwig Mentze, verlas das königliche „Patent“ und die „Notification“ der Stadt Lübeck. Beide Publikationen wurden „sodann an den gewöhnlichen Orten wie auch in der Synagoge affigirt, überdieß den besonders vorgeladenen Ältesten und Vorstehern der jüdischen Gemeinde anbefohlen, die in der Synagoge aufgestellte Namens Chiffre des jetzigen Königs von Dänemark abzunehmen und statt dessen ein seiner Zeit ihnen einzuhändigendes Landeshoheitszeichen anzuheften, ferner, in ihren gottesdienstlichen Gebeten die Fürbitte für den König von Dänemark zu unterlassen und für den Hochgedachten Senat einzulegen, endlich jede Verbindung mit dem Altonaischen Oberrabbiner gänzlich abzustellen und den Mitgliedern ihrer Gemeinde die Befolgung dieses Befehls gleichfalls einzuschärfen“.

Und am vierten Sonntag nach Trinitatis, am 29. Juni 1806, gab auch der Geniner evangelisch-lutherische Pastor Johann Friedrich Brandes von der Kanzel seiner St.-Georg-Kirche – im Auftrag Eines Hochedlen Rates der Kaiserlichen und des Heiligen Römischen Reichs freien Stadt Lübeck – Kenntnis vom Wechsel der Landeshoheit in den drei Gütern Moisling, Niendorf und Reecke. Das Dorf Genin – bislang dem Lübecker Domkapitel gehörend – war auf Grund von Vergleichs-Verhandlungen nach dem Reichsdeputationshauptschluß mit dem Herzog von Oldenburg bereits am 2. 4. 1804 in den Besitz der Stadt Lübeck gekommen.

Nachdem der habsburgische Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die römisch-deutsche Krone in Wien niedergelegt und alle Reichsstände von ihren Pflichten entbunden hatte, endete das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und die ‚freie Hansestadt‘ Lübeck wurde zu einem unabhängigen, völkerrechtlich souveränen Staatswesen. Der Senat versuchte an der in nahezu 200 Jahren bewährten ‚ewigen‘ Neutralitätspolitik in allen Reichskriegen weiterhin festzuhalten, nunmehr in enger Abstimmung mit den hansischen Schwesterstädten Bremen und Hamburg. Ungewollt und unvorbereitet jedoch gerieten die drei Städte – infolge der militärischen Operationen von Preußen und Franzosen nach der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt (14. Oktober) – in ein bislang nicht da gewesenes, kontinentales, wirtschaftspolitisches Kriegsgeschehen.
Am 6. November nahmen 53 000 Soldaten der Grande Armée die Hafenstadt Lübeck im Sturm. Die nunmehr beginnende siebenjährige französische (Besatzungs-)Zeit brachte Lübeck und Moisling einen katastrophalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zusammenbruch.

In Moisling organisierten die Ältesten der jüdischen Gemeinde – Moses Bloch und Heymann Liefmann – in eigener Regie und Verantwortung Schutzwachen, indem sie acht Husaren verpflichteten, die in der Zeit vom 8. bis zum 10. November das Dorf und alle seine Bewohner zu beschützen sich bemühten. Vom 9. bis zum 20. November 1806 „erhielten wir zur Bedeckung 3 Gendarms“, berichteten die Juden-Ältesten ihrem Gutsherrn. Diesen Selbsthilfemaßnahmen, die insgesamt 585 Reichstaler kosteten, schloß sich später der Gutspächter Warncke an.

Der Moislinger Gutsherr Senator Matthäus Rodde wurde am 11. November 1806 wegen seiner Finanzkraft, diplomatischen Erfahrung und patriotischen Gesinnung zum fünften Bürgermeister der besetzten Stadt gewählt. Kaiser Napoléon gewährte ihm am 18. November in Berlin eine Audienz; doch die prekäre Lage Lübecks, seines Handelshauses und des Gutes Moisling verschlechterten sich zunehmend. Rodde musste 1810 die Zahlungen einstellen, Konkurs anmelden. Der heruntergekommene Moislinger Herrenhof wurde nach 143 Jahren wieder zum lübeckischen Stadtgut.

Am bedeutsamsten freilich – weil zukunftweisend – geriet (auch) für Moisling die Verkoppelung der Dorfsfeldmarken, d. h. die so genannte Gemeinheitsteilung, die „Einfriedigung der Ländereien“, eine Arrondierung, die 1816 abgeschlossen wurde. Auf Grund dieser Agrarreformen entstand nicht nur die schleswig-holsteinische Knicklandschaft, dieser Reform, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeleitet worden war, verdankt das Land sein leistungsfähiges Bauerntum und seine hohe landwirtschaftliche Produktivität.
Dr. Peter Guttkuhn

hier-Luebeck bedankt sich bei Dr. Peter Guttkuhn für die freundliche Bereitstellung auch dieses Beitrages.

Dr. Peter Guttkuhn:
Der Wissenschaftler forscht seit Jahren zur deutsch-jüdischen Geschichte der Hansestadt. Auf nationaler und internationaler Ebene hat er nahezu 190 Titel zu diesem Forschungsgebiet publiziert. Seine Vorträge im In- und Ausland sind sehr gefragt und tragen in erheblichem Maß zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland bei.