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„Fall Mertesacker“: Schadete das Frustinterview dem Nationalfußballer? Auftrittsberater analysiert

Das umstrittene TV-Interview von Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker nach der qualvollen WM-Partie gegen Algerien (2:0) war aus Sicht von PR-Experten ein denkwürdiges Spektakel.

Der bundesweit tätige Medientrainer Wolf Achim Wiegand (60), der mit seiner Coachingagentur Wiegand & Wiegand – Die Auftrittsberater hunderte Führungskräfte auf Interviews vorbereitet hat, schreibt dazu:

Es ist selten, dass ein Live-Fernsehinterview schon in dem Moment zum Kult wird, in dem es ausgestrahlt wird. Das Gespräch mit dem genervten deutschen Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker (29) unmittelbar nach der mühsam errungenen 120-Minuten- Partie gegen Algerien (2:0) war so eines. Nur Sekunden später war das Gespräch von Reporter Boris Büchler auf YouTube zu sehen, unzählige Posts und Tweets waberten durch die sozialen Medien… (siehe: zumlink.de/mertesacker)

Mertesackers Wutschnauben offenbarte die innerste Gefühlswelt des Spielers. Der Journalist hatte beim Bohren nach Gründen für die schlechte deutsche Performance den wunden Punkt getroffen. „Verstehe Fragerei nicht“, blaffte Mertesacker noch atemlos nach der schweißtreibenden Partie. Und fügte später hinzu: „Is‘ mir völlig Wurscht. Wir sind jetzt unter den letzten Acht – und das zählt!“

Sachlich hatte Mertesacker recht. Aber macht es einen schlanken Fuß, ein Massenpublikum so zu bedienen? Ja und Nein. Denn: Einerseits haben die verbalen Angriffe auf den kritischen Frager den Frust der eigenen Fans von sich weg auf den Reporter gelenkt. Das Netz spendete Beifall: „Antworten durchaus berechtigt“ (@TineCommunicate), „DEN Zweikampf hat #Mertesacker definitiv gewonnen“ (@MuellerMatze), „Das war mal ehrlich“ (@tanit). Authentizität gefällt Vielen.

Andererseits: Mertesacker ist als Profisportler ein Showstar. Die Zuschauer wollen von kickenden Millionären volle Leistung sehen. Dafür zahlen sie teure Tickets und reisen bis nach Brasilien. Während der zwei Halbzeiten und in der Verlängerung fragten sich Millionen Menschen, wo die deutsche Fußball-Klasse geblieben war. Genau diese Fragen griff Reporter Büchler denn auch auf – als Anwalt der Zuschauer.

Die Aufgabe der Medien als kritische Beobachter ist es nämlich, von ihrem Publikum (Zuschauer, Hörer, Leser) erwartete Fragen zu stellen. Die Aufgabe der Befragten ist es, überzeugende Antworten zu geben. Diese Rollenverteilung kann mit Medientraining und einem Auftrittsberater geübt werden. Auch ein Medienhypeling wie Mertesacker hat einen Interviewcoach. Er geht nicht unvorbereitet vor die Kamera.

Mertesacker hat gespalten, wie Posts und Tweets beweisen. „Durchaus peinliches Interview, Herr #Mertesacker“, fand @RN_Florian. @papapreuss bemerkte: „lol, da is aber jemand stinkig“. Und @derherrknipser meinte: „Schwache Aussagen von #Mertesacker !!!!! Lächerlich!!!!“

Eines ist klar: Zum Vorbild für gute Interviewführung taugt der unterhaltsame Herr Mertesacker nicht. In der Wirtschaft beispielsweise gilt: gerade in Krisensituationen sollte beim öffentlichen Auftritt nicht Angefasstsein als Gefühl transportiert werden, sondern Souveränität und Situationskontrolle. Dazu kann auch angemessene Selbstkritik gehören.

Übrigens: ZDF-Reporter Büchler hat nun auch neue Fans. „Warum werden Sportler und Politiker eigentlich immer als Freiheitshelden gefeiert, wenn Journalisten mal ihren Job machen?“, fragte @einheinser auf Twitter. @popkulturjunkie beschrieb das Pressedilemma so: „Wenn Reporter nicht kritisch nachfragen, fällt man über sie her. Wenn sie kritisch nachfragen auch.“

Mertesacker indes hatte seine ganz eigene Lösung: „Ich lege mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne!“ Hauptsache, er taut danach wieder auf…