Gibt es den Weihnachtsmann wirklich?
Natürlich gibt es den Weihnachtsmann!
Joachim Nawrocki in „Die Welt“ (21.12.2002)
Ein gedankenloser englischer Pfarrer hat neulich die Kinder seiner Gemeinde bitter enttäuscht, so dass sie weinen mussten. Es sei rein wissenschaftlich gesehen unmöglich, dass Santa Claus in einer Nacht 91,8 Millionen Haushalte allein in Europa mit Geschenken versorgt, denn er müsste dabei so hohe Geschwindigkeiten entwickeln, dass er ganz einfach explodieren würde.
Was ist das nur für ein Pfarrer? Wir werden noch beweisen, dass sein Anti-Weihnachtsmann-Beweis auch wissenschaftlich nicht haltbar ist. Zunächst aber empfehlen wir Pfarrer Lee Rayfield aus Maidenhead, in die Türkei zu fahren, nach Myra, das zwischen Fethiye und Antalya liegt. Dort hat im 4. Jahrhundert der Heilige Nikolaus gelebt, vermutlich war er Bischof und ist etwa zwischen 345 und 352 in den Himmel gekommen. Myra ist ungefähr 2500 Jahre alt. Im Jahre 60 hat sich der Apostel Paulus in der Stadt aufgehalten, knapp 300 Jahre später hat hier der Heilige Nikolaus zahlreiche Wunder vollbracht. Er schenkte drei armen Mädchen Gold zur Heirat, rettete drei Unschuldige vor dem Blutrichter und soll drei zerstückelte und eingepökelte Schüler wieder zum Leben erweckt haben. An den Heiligen erinnert nicht nur eine Basilika, die im 19. Jahrhundert mit russischem Geld restauriert worden ist, weil ja auch die Russen den Nikolaus verehren. Selbst sein Sarkophag ist dort noch vorhanden, wenn auch die Gebeine verschwunden sind. Nur ein paar Skelettreste werden noch im nahen Antalya aufbewahrt. Vor allem aber steht in Myra ein Denkmal, das Nikolaus genau so zeigt, wie wir uns den Weihnachtsmann vorstellen. In einem kleinen Park, umgeben von Bäumen, Fächerpalmen und Rosen, steht er auf einem runden Sockel, hat einen Vollbart, einen langen Mantel mit Kapuze und behütet einige Kinder, die sich an ihn schmiegen – vielleicht sind es ja die soeben zum Leben erweckten Knaben.
Nun machen einige Schlaumeier die folgende Rechnung auf: Wenn Santa Claus in Europa am 24. Dezember alle 91,8 Millionen Haushalte beliefern wollte – in Amerika kommt er erst einen Tag später -, dann hätte er selbst bei einem 24-Stunden-Tag für jede Familie eine knappe tausendstel Sekunde übrig, Anfahrt inbegriffen. Für den Transport von etwa 320 000 Tonnen Geschenken würde er 210 000 Rentiere und entsprechend viele Schlitten benötigen. Mindestens 120 Millionen Kilometer müsste er zurücklegen, das würde die 4000fache Schallgeschwindigkeit erfordern. Beim Anfahren müssten er und die Rentiere das 17 500fache der Erdbeschleunigung aushalten – kurzum, sollte er es jemals versucht haben, er wäre sofort zerstoben und anschließend verglüht. Glauben die Besserwisser.
Aber sie sind nicht auf dem neuesten Stand der Forschung. In Amerika wird an einer Aufhebung der Gravitation experimentiert. Die Forscher vermuten, dass durch schnell rotierende Scheiben aus supraleitendem Material die Schwerkraft abgeschirmt werden kann. Das würde bedeuten, dass man einen neuartigen, Energie sparenden Antrieb für Raumschiffe hätte und dass, so ein Physiker wörtlich, „der menschliche Körper auch bei höchsten Beschleunigungen nicht an der Rückwand des Raumschiffes zerquetscht würde.“ Aber was für Astronauten gilt, gilt erst recht für den Weihnachtsmann. Wenn der heilige Nikolaus fragmentierte Knaben zusammensetzen konnte, dann wird er sich doch wohl auch eine Technik zu Nutze machen können, die von unserem begrenzten menschlichen Geist nur angedacht, aber noch nicht durchschaut worden ist. Also, liebe Kinder in Maidenhead, trocknet eure Tränen und tröstet euch: Das stimmt nicht mit dem explodierenden Weihnachtsmann.
Und dann gibt es da noch die Heisenbergsche Unschärferelation. Das ist jetzt für Kinder ein bisschen schwer zu erklären. Ein wenig vereinfacht geht das so: Ein Elektron schwirrt auf seiner Bahn mit einer solchen Geschwindigkeit um den Atomkern, wie sie etwa der Weihnachtsmann bei der Auslieferung der Geschenke bräuchte. Nun gibt es aber keine solche kleine Zeiteinheit, dass man den Standort eines Elektrons zu einem bestimmten Zeitpunkt festmachen könnte – er ist unscharf oder „verschmiert“, wie die Physiker sagen. Mit anderen Worten, das Elektron könnte an mehreren Orten zugleich sein. Und so ist es auch mit dem Weihnachtsmann.
Die Anti-Weihnachtsmann-Theorie ist somit als äußerst fragwürdig entlarvt: Sie hat kurze Beine und tönerne Füße. Der Weihnachtsmann ist ein Mysterium und wird es bleiben. Da beißt auch Pfarrer Lee Rayfield keine Zipfelmütze von ab.
Quelle: http://www.welt.de/data/2002/12/21/26946.html?s=1