Jutta Kähler und Dr. Jürgen Schwalm: Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern in der „Lübecker Gemeinnützigen“
Es war eine amüsante und abwechslungsreiche Soiree im Rahmen der erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Litterärisches Gespräch“. Am 19.September 2019 boten Jutta Kähler und Dr. Jürgen Schwalm im vollbesetzten Bildersaal der Lübecker „Gemeinnützigen“ unter dem Motto „Morgennatz und Ringelstern“ einen Rezitationsabend mit Gedichten und Prosa von Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern.Subversives, lustvoll Anarchisches, Groteskes, Skurriles, Melancholisches und Ernsthaftes- dies alles findet sich in der Sprachartistik von Ringelnatz (1883-1934)und Morgenstern (1871-1914).Die Akteure falteten wie die Rehlein die Zehlein, begegneten Palmström und Kuttel Daddeldu und dem „tiefsten deutschen Gedicht“, den „Galgenliedern“ und dem „Kinder-Verwirr-Buch“, das auch Erwachsene verwirren kann. Ringelnatz und Morgenstern verdankt man mit die schönsten Liebesgedichjte deutscher Sprache, „Muschelkalk“ und Margareta gewidmet. „Es ist aber zu hübsch: Man lacht sich krumm, bewundert hinterher, ernster geworden, eine tiefe Lyrik.“ Kurt Tucholskys Würdigung Morgensterns trifft sicher auch auf Ringelnatz zu.
Seine Beliebtheit verdankte Ringelnatz er vor allem einer ihm eigenen Mischung aus skandalöser erotischer Derbheit, beißender Satire und zarten Tönen, melancholischen , nach innen gekehrten Stimmungen. Dazu kam pantomimisches Talent, mit dem er z.B. in den „Turngedichten“ (1920) die spießbürgerliche und deutschtümelnde Kompensation des Sexuellen im Sport demaskierte. Seine wohl bekannteste Figur ist der betrunkene Matrose Kuttel Daddeldu, „Kuttel Daddeldu“, 1920; erw. 1923, in den autobiografische Elemente aus Ringelnatz`Seefahrerjahren eingeflossen sind. In seinen parodistischen, in antibürgerlichem Gestus gehaltenen und amoralisch wirkenden Gedichten spricht Ringelnatz aus der Perspektive von Außenseitern, Deklassierten und Armen. Zumeist schildert er in einer teils grotesken, teils liebevollen Überhöhung der kleinen Dinge des Alltags eine „Welt von unten“. Besonders seine Kindergedichtbände, die er selbst illustrierte,“Geheimes Kinderspielbuch“, 1924, verbinden die Lust an Nonsens und phantastischen Einfällen mit der Konstruktion einer anarchischen Gegenwelt, in der gerade das Verbotene zur Spielregel wird.
An Ringelnatz`Begabung zur Selbstparodie mag es gelegen haben, dass bei früheren Bewertungen seine Außenseiterposition überakzentuiert wurde. Heute sieht man ihn eher in Übereinstimmung mit seiner Zeit, deren Nerv er mit seinen der täglichen Misere wie mit Lebenslust trotzenden Gedichten genau traf.
Erfolgreich war Morgenstern sowohl mit stilistisch und formal eher konventioneller Lyrik :“Auf vielen Wegen“, 1897; „Ich und die Welt“, 1898; „Ein Sommer“, 1900; „Und aber ründet sich ein Kranz“, 1902; „Melancholie“, 1906, wie auch mit den sprachlich und strukturell innovativen Bänden „Galgenlieder“, „Palmström“, 1910, „Palma Kunkel“, 1916, „Der Gingganz“, 1919. In seiner Literaturgeschichte , 1973, rückt Klaus Günther Just sogar die lyrischen Grotesken aus den „Galgenliedern“ in die Nähe anderer Autoren aus dieser Zeit, die literarisch einen neuen Mythos kreieren wollten wie A.Holz, Th. Däubler, A.Mombert, Otto zur Linde, Ludwig Derleth. Morgenstern kreiert diesen neuen Mythos als Spiel und im Spiel mit imaginativen Figuren wie Palmström, Korff, Palma Kunkel, Gingganz, die aber trotz ihrer Irrealität einen auf die Realität gerichteten Sinn behalten.
Die Gedichte von Ringelnatz und Morgenstern erinnern an den Dadaismus und die MERZ-Kunst von Kurt Schwitters. Parallelen zu den Werken der „Konkreten Poesie“ werden sichtbar.
Jutta Kähler und Dr. Jürgen Schwalm, die eine hervorragende Textauswahl getroffen hatten, rezitierten zum Teil im Wechsel einfühlsam, nuanciert und akzentuiert und mit phantastischer Mimik und Gestik. Sie ergänzten die eindrucksvollen Präsentation mit erhellenden Kommentaren zu Leben und Werk der beiden Künstler. Beide wurden schließlich von den zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern mit sehr viel Beifall bedacht.
Lutz Gallinat