Menschen mit Behinderungen drohen schlechtere Lebensbedingungen – Schleswig-Holstein kündigt Landesrahmenvertrag der Eingliederungshilfe
Lübeck, 5. Mai 2010. Der schleswig-holsteinische Landkreistag hat den Landesrahmenvertrag zur Eingliederungshilfe Ende 2009 mit Wirkung zum 1. April 2011 gekündigt. Damit ist unter anderem die finanzielle Ausstattung und Personalschlüssel der gesamten Behindertenhilfe in Frage gestellt. Denn mit der Kündigung sollen deutliche Einsparungen erzielt werden. „Wie das gehen soll, ist noch vollkommen unklar“, sagt Fred Mente, Vorstand der Vorwerker Diakonie. „Bis heute – also fast fünf Monate nach der Kündigung – liegt noch kein konkreter Vorschlag auf dem Tisch. Uns rennt die Zeit davon. Klar ist nur, dass jede Kürzung voll auf die Qualität der Angebote durchschlägt.“Das Szenario der Zukunft: Zahlreiche ambulante und stationäre Unterstützungsleistungen werden eingeschränkt und bis zu 3.000 Arbeitsplätze in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen fallen in Schleswig-Holstein weg. „Wenn die Einsparziele so realisiert werden, hat das Konsequenzen für die zukünftige Betreuungsqualität. Es bleibt weniger Zeit für die Betreuung und Begleitung und weniger Zeit für persönliche Gespräche“, so Mente. Die Kürzungen gehen also auf Kosten der Menschen mit Behinderungen. Ihnen drohen schlechtere Lebensbedingungen als bisher.
Der Vorstand der Vorwerker Diakonie ärgert sich auch über die Hintergründe, die zur Kündigung führten. „Grundlage der Entscheidung ist eine Statistik, die zeigt, dass Schleswig-Holstein im Bundesvergleich überdurchschnittlich viel Geld für die Eingliederungshilfe zahlt“, erklärt Mente. Da in Schleswig-Holstein jedoch überdurchschnittlich viele Menschen mit Behinderungen leben, würde der statistische Vergleich nicht stimmen. „Ein fairer Vergleich macht deutlich, dass Schleswig-Holsteins Ausgaben für Menschen mit Behinderungen gerade einmal im Bundesschnitt liegen, im Vergleich mit den alten Bundesländern sogar deutlich darunter – also ist eher das Gegenteil richtig.“
Für die Vorwerker Diakonie ist klar: Menschen mit Behinderungen brauchen eine faire Perspektive und sichere Rahmenbedingungen auch über den 1. April 2011 hinaus. „Deshalb fordern wir von der Politik, die Verhandlungen über einen neuen Landesrahmenvertrag aufzunehmen“, so Mente. Ihn stört an der bisherigen Diskussion, dass die Eingliederungshilfe immer als Kostenfaktor verstanden wird, obwohl die Einrichtungen bedeutende Wirtschaftsfaktoren sind. „Sie bieten zahlreiche Arbeitsplätze für Menschen mit und ohne Behinderungen und haben als Auftraggeber der örtlichen Wirtschaft erhebliche Kaufkraft.“ Studien unterstützen seine These: Die Hälfte der Ausgaben in der Eingliederungshilfe fließen allein durch Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer zurück in die öffentlichen Kassen. Da in schleswig-holsteinischen Einrichtungen auch viele Menschen mit Behinderungen leben, die aus anderen Bundesländern stammen und deren Kosten daher von diesen Ländern getragen werden, fließen außerdem erhebliche Mittel zusätzlich nach Schleswig-Holstein.
Zusatzinformation
In Schleswig-Holstein sind rund 30.000 Menschen mit Behinderungen, Tendenz steigend, auf Eingliederungshilfe angewiesen. Sie haben Anspruch auf ambulante oder stationäre Unterstützungsleistungen. Die Ansprüche von Menschen mit Behinderungen sind im zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) geregelt. Umfang, Qualität und Struktur der Hilfen werden landesindividuell in sogenannten Rahmenverträgen zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern vereinbart. Diese Regelungen sind in Schleswig-Holstein mit Wirkung zum 1. April 2011 gekündigt, unklar ist, unter welchen Rahmenbedingungen Hilfen dann angeboten werden können.
Bisher werden in Schleswig-Holstein über 500 Millionen Euro jährlich in die Eingliederungshilfe investiert.
In der Vorwerker Diakonie werden aktuell im Rahmen von stationären und ambulanten Angeboten über 1.200 Menschen mit Behinderungen begleitet. Insgesamt sind in der Vorwerker Diakonie ca. 2.500 Mitarbeitende mit und ohne Behinderungen, in den Bereichen Behindertenhilfe sind 1.100 hauptamtliche Mitarbeitende tätig.