Das interaktive Online-Magazin seit 1999

Aktuelle Nachrichten, lokale Themen aus Kultur, Wissenschaft, Sport, Politik, Wirtschaft, Rezensionen und Veranstaltungen

Glaubhaft

Prüfet alles, das Gute behaltet!

Über das Prüfen und das Gute in der jüdischen und der christlichen Tradition

Klaus Wengst

„Prüft alles; das Gute behaltet!“ Dieses Jahresthema des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit für 2005 erinnert mich unmittelbar an das von 2003: „Uns ist gesagt, was gut ist.“ Wenn gesagt werden soll, „was gut ist“, wenn das sich aus dem Prüfen ergebende „Gute“ behalten werden soll, geht es um das Verständnis ethischen Handelns, geht es um Verantwortung. Damit klingt implizit auch das diesjährige Jahresthema wieder an, in dem das Wort „Verantwortung“ programmatisch voransteht. Das Jahresthema von 2003 war ein fast wörtliches Zitat aus dem Prophetenbuch Micha, das für 2005 ist ein wörtliches Zitat aus dem 1. Thessalonicherbrief des Apostels Paulus. Beide Male besteht größte Nähe zur Übersetzung Luthers. Die Aufeinanderfolge der beiden Zitate als Jahresthemen, das eine aus dem – christlich gesprochen – Alten Testament, das andere aus dem Neuen Testament, könnte zu abwegigen Gedanken verleiten. Die Feststellung, dass schon gesagt sei, „was gut ist“, könnte den Verdacht provozieren: Gegenüber der Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit des in der modernen Welt als „gut“ Angebotenen und des in der postmodernen Welt als „gut“ Relativierten solle hier – sozusagen post-postmodern – ein autoritärer Rekurs auf vermeintlich immer Feststehendes erfolgen, aus dem Verdruss am nicht endenden Diskurs ein Rückzug auf immer schon Gültiges. Dass das nicht geht, habe man eingesehen und sei also nun im Neuen Testament fündig geworden, woraus sich die Devise ergebe: permanente Prüfung dessen, was ist, um immer wieder herauszufinden, was sein soll. Aber mit einer solchen Sicht täte man nicht nur dem Satz aus der jüdischen Bibel Unrecht, sondern hätte man sich auch die neutestamentliche Aufforderung allzu flott zurechtgestutzt. Es könnte hilfreich sein, beim Bedenken des Jahresthemas für 2005 an Aspekte des Jahresthemas von 2003 zu erinnern und so beide Sätze miteinander ins Gespräch zu bringen.

1. Die Frage nach den Adressaten

Im Jahresthema von 2003 gelten „wir“ als Adressat: „Uns ist gesagt, was gut ist.“ Die Angabe dieses Adressaten fällt gegenüber dem zugrunde liegenden Michatext sofort auf. Denn am Beginn von Micha 6,8 heißt es: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ Warum diese Änderung? Wer ist das „Wir“? Nun, da das Motto vom Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ausgegeben worden ist, wird man nicht fehlgehen in der Annahme, dass das „Wir“ auf „uns Christen und Juden“ zielt. So ist ja das Michawort sowohl Bestandteil der jüdischen Bibel als auch Bestandteil der christlichen Bibel. Juden und Christen in einem gemeinsamen „Wir“ – gegenüber einer langen christlichen Tradition nach dem Schema: „wir Christen: ja, aber ihr Juden nicht“ ist dieses verbindende „Wir“ gewiss gut. Aber ich denke, es wäre wichtig, dass wir Christen uns in diesem gemeinsamen „Wir“ nicht zu breit machten, sondern differenziert danach fragten, wo in ihm unser Ort ist.

Wer ist Adressat im Text von Micha 6,8? Der Wortlaut des Textes ist eindeutig. Da wird ein „Du“ angeredet und als „Mensch“ benannt – ein einzelnes verantwortliches Subjekt, das nicht im Kollektiv verschwinden darf. Die schlichte Anrede „Mensch“ eröffnet einen weiten Raum. Selbstverständlich geht es im Kontext von Micha 6 eindeutig um das Gegenüber von Gott und seinem Volk Israel. Es ist ein Mensch aus Israel, der nach den vorangehenden Versen fragt, mit welchen Opfer- und Sühneleistungen er vor Gott treten solle; und ihm wird damit geantwortet, was ihm schon gesagt ist. Die Bezeichnung „Mensch“ und die Qualifizierung „gut“ erinnern jedoch zugleich an die Schöpfungsgeschichte und legen damit einen Bezug auf alle Menschen nahe. Die rabbinische Auslegung kann an Bibelstellen, an denen „der Mensch“ steht, pointiert argumentieren: „Priester, Leviten und Israeliten ist da nicht gesagt, sondern ‚der Mensch'“.1 Wäre von daher also das „Uns“ im Jahresthema von 2003 berechtigt? Vielleicht; aber es wäre gut, noch einmal genauer hinzusehen. Denn „der Mensch“ – der Mensch außerhalb Israels – „weiß nur, ‚was gut ist‘, wenn er mit ‚den Völkern‘ zum Zion zieht und sich von dort Weisung holt“.2 So wird es in der großen Vision in Micha 4 erhofft, wo die zum Zion kommenden Völker sagen: „Ja, vom Zion geht Weisung aus und das Wort des Ewigen von Jerusalem.“ Was nach Micha 6,8 gut ist, ist Israel gesagt; und wir Christen – und andere, die es wollen – können es hören, wenn wir darauf hören, was Israel gesagt ist und was in Israel gesagt wird.3 Dieser Platzanweisung ist m.E. zu folgen.

Bin ich ihr im Blick auf das Jahresthema für 2005, das aus einer neutestamentlichen Schrift stammt, entnommen? Paulus spricht die Gemeinde in Thessaloniki als Menschen an, die „ihr euch zu Gott hingewandt habt weg von den Götzen, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“ (1Thess 1,9). Es sind Menschen, die sich durch das Evangelium von Jesus Christus zum Gott Israels als dem Einen haben rufen lassen, was die Absage gegenüber anderen zur Folge hatte, die sich als Götter oder Herren anboten oder aufdrängten. Nachfahre solcher Menschen bin ich. Was Paulus seinen Gemeinden schreibt – und das gilt auch für das sonst im Neuen Testament Stehende -, hat als seinen selbstverständlichen Referenzrahmen die heiligen Schriften Israels. Das wird auch für den Text des Jahresthemas 2005 deutlich werden. So meine ich gut beraten zu sein, auch beim Nachdenken über neutestamentliche Texte die in dem Michawort vernommene Platzanweisung nicht zu vergessen und also darauf zu hören, was Israel gesagt ist und was in Israel gesagt wird.

2. „Es ist dir gesagt, Mensch“ – „Prüft alles!“

Man könnte in den beiden Jahresthemen dreierlei Gegensätze ausmachen: Der Anrede an den einzelnen Menschen steht die an eine Pluralität gegenüber, der Aussage, es sei schon gesagt, was gut ist, die Aufforderung zu prüfen, was gut ist, dem Wenigen, was als gut genannt wird, ein umfassendes „Alles“, was geprüft werden soll. Aber es liegen hier keine Gegensätze vor, sondern es handelt sich um einander notwendig ergänzende Aspekte.

„Was gut ist“, muss gesagt werden – immer wieder gesagt werden, weil es sich offenbar nicht von selbst versteht. „Was gut ist“, kann ich mir nicht selbst sagen; es wäre wahrscheinlich im besten Fall von einem so genannten gesunden Egoismus nicht zu unterscheiden. Wenn aber, „was gut ist“, uns schon gesagt ist, stellt sich die Frage nach dem Subjekt, das sich in der passiven Formulierung verbirgt. Der hebräische Text formuliert nicht im Passiv. Ihm entspricht die Übersetzung von Torczyner ziemlich genau: „Er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist.“ Und dieses Personalpronomen „er“ steht für den im vorangehenden Vers gebrauchten Gottesnamen, von Torczyner mit „der Ewige“ wiedergegeben. Das Subjekt, das sagt, „was gut ist“, ist also der mit Namen genannte Gott Israels. Und dieses Subjekt erscheint dann ja auch explizit in der Fortsetzung dieses Wortes aus Micha 6,8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Ewige von dir fordert.“ Das klingt autoritär. Doch sei daran erinnert, dass in der rabbinischen Tradition der Name Gottes für das Maß, für die Eigenschaft des Erbarmens Gottes steht. Dem entspricht es, dass Gott im vorangehenden Text das Volk an sein befreiendes und rettendes Handeln erinnert von Ägypten an bis zum Einzug ins Land. Dort ist ein Streit zwischen Gott und seinem Volk vorgestellt, in dem Gott fragt: „Mein Volk, was habe ich dir getan? Und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir!“ (V.3) Und er gibt die Antwort dann gleich selbst: „Ja, ich habe dich heraufgeführt aus dem Land Ägypten und aus dem Sklavenhaus dich befreit“ (V.4). Der das getan hat, sagt, „was gut ist“, damit die Freiheit bewahrt und bewährt werde. Aber wie verhält es sich zueinander, dass hier Gott sagt, was gut ist, und dort Menschen aufgefordert werden, das Gute erst durch umfassendes Prüfen festzustellen?

Das, was als „gut“ dargelegt werden soll, wird bei Micha auf bezeichnende Weise eingeführt. Vorher im Text hatte der Mensch, der vor Gott hintreten will, in rhetorischer Übertreibung gefragt, ob er es mit Unmengen von Opfergaben tun soll, ja sogar mit der Hingabe seines Erstgeborenen. Das wird alles beiseite gewischt. Überanstrengung ist nicht gefragt; es gibt keine Überforderung. Er weiß doch selbst längst, was gut und also Gottes Forderung an ihn ist; sie ist ihm schon gesagt. Aber sie wird nun so formuliert, wie sie bisher noch nicht gekannt worden ist; und sie wird eingeführt als ein Weniges, ein Geringes: „Nichts sonst als Recht und Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und verborgen mitgehen mit deinem Gott.“

Wenn aber das bereits gesagte Gute so gesagt wird, wie es noch nicht gesagt worden ist, ist schon bei diesem Michawort selbst ein Auslegungsprozess vorausgesetzt. In seiner Formulierung des Guten gibt es mit den Leitworten Recht und Gerechtigkeit sowie Freundlichkeit Ziele vor. Dann aber ist ein Prüfen dessen impliziert, was konkret getan werden soll, um zu den Zielen zu gelangen. Das Gute, was schon gesagt ist, muss immer wieder neu artikuliert und konkretisiert werden.

So sehr schon zu betonen war, dass jede und jeder Einzelne verantwortlich ist und sich nicht im Kollektiv verstecken darf, so scheint es mir doch alles andere als ein Zufall zu sein, dass die sich bei Paulus findende ausdrückliche Aufforderung zu prüfen im Plural steht. „Was gut ist“, legen nicht die je Einzelnen fest. Dass sie es nicht hinsichtlich des Guten tun können, das schon gesagt ist, liegt auf der Hand. Aber sie dürfen es auch nicht hinsichtlich des je konkret zu findenden und zu bestimmenden Guten, das getan werden soll. Das ist vielmehr Sache der Gemeinschaft im Ganzen, die sich darauf eingelassen hat, was als Gutes schon gesagt ist. Dem sei anhand des aus 1Thess 5,21 entnommenen Jahresthemas weiter nachgegangen.

3. „Prüft alles!“ Die beurteilende Funktion der Gemeinde

Wie im ganzen Brief ist natürlich auch in 1Thess 5,21 die Gemeinde insgesamt angeredet. Dabei hat Paulus insbesondere die versammelte Gemeinde im Blick. Das tritt gegen Schluss seines Briefes deutlich hervor, wenn er in 5,19f. mahnt: „Die Geistkraft unterdrückt nicht! Missachtet nicht prophetische Begabungen!“ Alle Getauften sind nach Paulus mit Gottes Geist begabt und so für ihn beschlagnahmt worden (vgl. 1Kor 12,13). Dieser Geist wirkt sich aus in unterschiedlichen Begabungen (1Kor 12,3-11), die vor allem in der Gemeindeversammlung zum Zuge kommen (vgl. 1Kor 14). Dabei hebt Paulus gegenüber der von selbst imponierenden Glossolalie, die als Sprache des Himmels galt, besonders die nüchterne und verständliche prophetische Rede hervor. Wenn er nun in 1Thess 5 den Mahnungen, die Geistkraft nicht zu unterdrücken und prophetische Redebeiträge nicht zu missachten, die weitere Mahnung folgen lässt: „Alles jedoch prüft!“, lässt das zwei aufschlussreiche Folgerungen zu. Einmal ist deutlich, dass das als Gegenstand der Prüfung genannte „Alles“ nicht ein unbestimmt Allgemeines ist, ein global sich vorfindender breit sortierter Warenkorb, dessen einzelne Produkte einzelne Subjekte für sich einem Test unterziehen – und sich dann als patchwork zusammenstellen, was ihnen passt. Bei dem „Alles“ in 1Thess 5,21, dem Gegenstand des Prüfens, handelt es sich also konkret um die in der versammelten Gemeinde zum Ausdruck kommenden Beiträge ihrer geistbegabten Mitglieder. Kein Beitrag, keine Äußerung ist der Prüfung entzogen; alle – ohne Ausnahme – sind zu prüfen. Das gilt ausdrücklich auch für solche Äußerungen, die mit prophetischem Anspruch ausgebracht werden. Das ist der erste Punkt, der festgehalten werden soll. Zum anderen ist daran zu erinnern, dass als Subjekt des Prüfens die versammelte Gemeinde angeredet wird. Ihr als ganzer kommt eine beurteilende Funktion gegenüber allen in ihr gemachten Einzeläußerungen zu. Keine Einzeläußerung, so inspiriert sie sich auch gibt, ergeht in absoluter Autorität; sie unterliegt der Beurteilung durch die versammelte Gemeinde. Ihr obliegt es, darüber zu entscheiden, was als gut zu behalten und was als böse abzuweisen ist.

Das kann von weiteren Stellen aus den paulinischen Briefen gestützt werden, die zugleich auch Hinweise geben, worauf vor allem das Prüfen sich inhaltlich bezieht. In 1Kor 14 nennt Paulus konkrete Eckpunkte für den geordneten Verlauf einer Gemeindeversammlung. In diesem Zusammenhang schreibt er in V.29: „Von den prophetisch Begabten sollen zwei oder drei reden, und die übrigen sollen es beurteilen.“ Dass mit „den Übrigen“ nicht die anderen Propheten gemeint sind, sondern die übrige Gemeinde im Ganzen, ergibt sich aus der schon erwähnten Aufforderung zum Prüfen in 1Thess 5 und aus den beiden noch zu besprechenden weiteren Stellen. Die Gemeinde wird also aufgefordert, das zu beurteilen, was einzelne prophetisch Begabte in ihr sagen. Sie treten zwar mit dem Anspruch auf, im Geist Gottes zu reden. Aber ob es wirklich der Geist Gottes ist, der aus ihnen spricht, unterliegt der Beurteilung durch die Gemeinde.

Auch in Röm 12,1f. fordert Paulus die Gemeinde zu einem Prüfen auf: „Ich ermahne euch also, Geschwister, aufgrund des Erbarmens Gottes, eure Leiber als ein lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen; das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Gestaltet euch nicht dieser Weltzeit gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung des Denkens, damit ihr prüft, was der Wille Gottes sei: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.“ Im Hintergrund steht hier eine schon spiritualisierte kultische Begrifflichkeit, nach der der wahre Kult in Beten und Singen besteht, was dem Menschen als einem mit Vernunft begabten Wesen entspreche. Das nimmt Paulus auf und gestaltet es kritisch um, indem er – gut pharisäisch – alle Lebensäußerungen dem Willen Gottes unterstellt wissen will. Weder gibt der Mensch bestimmte Dinge, die ihm gehören, an Gott ab, noch kommt es allein auf sein Loben Gottes im Gebet und im Gesang an, sondern sein „Opfer“ ist sein eigener Leib: Er selbst als ganzer gehört Gott, und als solcher ist er gefordert „in seiner Solidarität und Kommunikation mit dem Nächsten und der Welt“.4 Die Opferterminologie hat dabei die Funktion, die unbedingte Verpflichtung dieser Forderung herauszustellen. Der „Gottesdienst“, von dem Paulus hier spricht, erfolgt nicht in einem besonders herausgehobenen Zeitraum, er findet vielmehr statt – wie es Ernst Käsemann treffend formuliert hat – im „Alltag der Welt“.5 Der hier geforderte „vernünftige Gottesdienst“ meint also nichts anderes als eine dem Willen Gottes entsprechende Lebensführung. Was aber je konkret der Wille Gottes ist, soll von der Gemeinde geprüft werden. Dafür geben die substantivierten Adjektive Richtungsanzeigen: „das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“.

Eine Parallele zu Röm 12,2 bildet Phil 1,9-11. Paulus gibt hier als Inhalt seines Gebetes an, „dass eure Liebe noch mehr und mehr zunehme an Erkenntnis und aller Urteilskraft, damit ihr prüft, worauf es ankommt, auf dass ihr lauter und makellos seid für den Tag Christi, erfüllt durch Jesus Christus von Frucht der Gerechtigkeit zu Lob und Ehre Gottes.“ Der Aufforderung in Röm 12,2, sich nicht dieser Welt gleich zu gestalten, sich nicht gleichschalten zu lassen, sondern sich durch Erneuerung des Denkens zu ändern, entspricht hier die Bitte um Zunahme von Erkenntnis und Urteilskraft als Elementen der Liebe. Unter der Voraussetzung erkennender und urteilsfähiger Liebe kann Paulus dann zu einer Prüfung dessen anhalten, worauf es ankommt – entsprechend der Prüfung des Willens Gottes in Röm 12,2. „Worauf es ankommt“, ist für ihn nichts anderes als der Wille Gottes.

Das Herausfinden dessen, worauf es ankommt und was der Wille Gottes ist, steht nicht beziehungslos neben dem, was vorher über das Prüfen und Beurteilen der in der versammelten Gemeinde geäußerten Beiträge gesagt wurde, besonders der prophetischen. Prophetisches Reden ist ja nicht isolierte Ankündigung irgendwelcher zukünftigen Dinge, sondern in erster Linie auf das Verhalten der Angeredeten zielende Mahnung. Das können wir sehr gut an demjenigen Propheten aus dem Bereich christusgläubiger Gemeinden erkennen, über den wir am meisten wissen, weil er uns ein ganzes Buch hinterlassen hat: Johannes, Verfasser der nach ihm benannten Offenbarung. Johannes benennt sich zwar nirgends ausdrücklich als einen Propheten, aber er lässt deutlich prophetischen Anspruch erkennen (1,3; 22,7.9.18f.). Er schreibt ein Buch voller Visionen, mit denen er die von ihm als äußerst bedrängend erfahrene Gegenwart deutet: Nicht den so offensichtlich Triumphierenden, die über Leichen gehen, gehört die Macht, sondern Gott und seinem ohnmächtigen Gesalbten. Damit tröstet er; aber vor allem mahnt er. Er fordert zu widerständigem Ausharren auf (13,10) und zu bewusster sozialer Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft (18,4). Vor seine Visionen setzt er die Sendschreiben an die Gemeinden. Seine einzige konkrete Mahnung in ihnen zeigt, wo für ihn der status confessionis liegt: bei der Enthaltung von Götzenopferfleisch. Dabei ging es nicht um eine bloß rituelle Frage, sondern um die Frage gesellschaftlicher Partizipation. Das Sendschreiben nach Thyatira (2,18-29) zeigt, dass eine dortige Prophetin, wahrscheinlich in Aufnahme paulinischer Tradition, eine dem Propheten Johannes entgegen gesetzte Position vertrat. Johannes spricht mit dem Anspruch, im Geist Gottes zu reden; die Prophetin in Thyatira, die er abfällig als „Isebel“ bezeichnet, weil er in ihrer Position einen Abfall von Gott sah, wird das nicht weniger getan haben. So stand Prophetie gegen Prophetie; und die Gemeinde musste zusehen, wie sie damit zurechtkam.

4. „Das Gute“

An Johannes kann ein weiterer Punkt deutlich werden. Prophetie ist keine Schöpfung aus dem Nichts; sie hat Vorgaben. Johannes schreibt Visionen. Aber seine schriftlich vorliegenden Visionen sind durch und durch gesättigt von Zitaten aus seiner Bibel, sind Rezeption und neue Montage ganzer Abschnitte. Jürgen Ebach hat das treffend so formuliert: Was immer Johannes gesehen, was immer er für „Gesichte“ gehabt haben mag, auf alle Fälle hat er gesichtet, seine heiligen Schriften nämlich.6 Propheten, die in den christusgläubigen Gemeinden auftreten und ihnen sagen, wo es lang gehen soll, haben als ihren Referenzrahmen die Schrift. Genau diesen Referenzrahmen hat auch das Prüfen der Gemeinde, aus dem sich „das Gute“ ergeben soll, „das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“, das, „worauf es ankommt“. Paulus identifiziert es in Röm 12,2 ausdrücklich als den Willen Gottes. Und der Wille Gottes ist von der Gemeinde nicht erst zu erfinden, sondern er ist zu finden aufgrund des schon geäußerten und in der Schrift vorgegebenen Willens Gottes. Es zeigt sich hier also strukturell dasselbe, was wir schon bei dem Michatext, der Vorlage für das Jahresthema von 2003, gesehen haben: Was gut ist, ist schon gesagt und muss doch wieder neu und anders gesagt werden, wofür das, was schon gesagt ist, die Vor-Gabe bildet.

Was die Gemeinde beim Prüfen als gut befindet und so findet, behält sie, indem sie sich daran hält, indem sie es sozusagen dem Praxistest aussetzt, worin sich das Gute als gut bewähren und dann auch erhalten wird. Dass Paulus diese an den angeführten Stellen ganz selbstverständlich gebrauchten Zusammenhänge aus seiner jüdischen Tradition vertraut sind, lässt er an einer anderen Stelle ausdrücklich und relativ ausführlich erkennen.

5. „Unterrichtet aus der Tora“

In Röm 2,17-20 schreibt Paulus: „Wenn du als Jude bezeichnet wirst, dich auf die Tora stützest und dich Gottes rühmst, Gottes Willen erkennst und prüfst, worauf es ankommt, unterrichtet aus der Tora, und darauf vertraust, dass du ein Führer der Blinden bist, ein Licht derer, die im Dunkeln sind, ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, der die Verkörperung von Erkenntnis und Wahrheit in der Tora hat“. Diese Kette von Voraussetzungen, der hier gesetzte Fall in einer Reihe zusammengehöriger Aspekte wird von Paulus nicht grammatisch glatt mit einem Hauptsatz verbunden. Er bricht vielmehr ab und lässt rhetorische Fragen folgen, die das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, von Lehre und Leben, von gefordertem Tun und tatsächlichem Verhalten thematisieren. So in V.21: „Der du also andere lehrst, lehrst dich nicht selbst? Der du predigst, nicht zu stehlen, stiehlst?“

In diesen rhetorischen Fragen führt Paulus Angriffe. Aber die vorher genannten Voraussetzungen können von ihm nicht als negative Aussagen verstanden worden sein. Sonst würde ja seine anschließende Argumentation nicht funktionieren. Nach der zuvor gemachten Feststellung, dass nicht die Hörer, sondern die Täter der Tora von Gott gerechtfertigt werden (2,13), hatte er anschließend zunächst den für Nichtjuden günstigsten Fall gesetzt, dass sie, obwohl sie die Tora nicht haben, doch das von ihr Geforderte tun, weil es ihnen ins Herz geschrieben ist. Jetzt setzt er den für Juden schlimmsten Fall, dass sie in Kenntnis der Tora und als Lehrer der Tora diese dennoch übertreten.7

David Flusser hat auf eine sachliche Parallele zu dem zuletzt gesetzten Fall in der rabbinischen Literatur aufmerksam gemacht, in der das Auseinanderfallen von Lehre und Leben in folgender Weise gegeißelt wird: „Wer die Schrift liest, die Tora lernt und den Schülern der Weisen dient, aber im Handel nicht verlässlich und in seinem Reden mit den Menschen nicht freundlich ist – was sagen die Menschen über ihn? Wehe diesem Menschen, der Tora gelernt hat! Wehe seinem Vater, der ihn Tora gelehrt hat! Wehe seinem Lehrer, der ihn Tora gelehrt hat! Dieser Mensch, der Tora gelernt hat – seht nur, wie verkommen seine Taten sind, wie verdorben seine Wege! Über ihn sagt die Schrift: ‚Man sagt über sie: Volk Adonajs sind sie; und doch mussten sie aus ihrem Land ausziehen‘ (Ez 36,20)“.8

Dass das in den Voraussetzungen von Röm 2,17-20 Angeführte für Paulus positiv besetzt ist, ergibt sich auch von daher, dass er hier Aussagen macht, die dem analog sind, was er über das geforderte Prüfen des Guten durch die Gemeinde sagt. Daher lohnt es sich in unserem Zusammenhang, diese Stelle des Römerbriefes näher zu betrachten. Drei Punkte will ich hervorheben. Als erste Voraussetzung nennt Paulus: „Wenn du als Jude bezeichnet wirst“; man könnte auch übersetzen: „Wenn du dich als einen Juden bezeichnen lässt“. Mit der Bezeichnung „Jude“ ist die besondere Beziehung zu dem einen Gott eingespielt unter der klaren Abgrenzung von allem Götzendienst. Entsprechend wird im babylonischen Talmud geradezu definiert: „Jeder, der den Götzendienst verleugnet, wird ein Jude genannt.9

Die nächsten beiden Sätzchen gehören sachlich zusammen; sie bilden den zweiten Punkt: sich auf die Tora stützen und sich Gottes rühmen. Gott hat Israel die Tora gegeben, und Israel hat sie angenommen. Mit ihr sind Israel „die Worte Gottes anvertraut worden“. Das ist das Erste, was Paulus in Röm 3,1f. als „das Besondere des Juden“ und „den Nutzen der Beschneidung“ anführt. „Die Gabe der Tora“ (Röm 9,4) gehört zu den Israel geschenkten „Gnadengaben“ und ist so integraler Bestandteil seiner Berufung durch Gott; beides – die Gnadengaben und die Berufung sind nach Röm 11,29 „unwiderruflich“. Sich auf die Tora zu stützen und sich Gottes zu rühmen, sind so zwei Seiten derselben Sache. Die Aussage in Röm 2,23, sich der Tora rühmen, ist davon eine konzentrierte Zusammenfassung, da die Tora nicht anders denn als Gabe Gottes gedacht werden kann. Sich der Tora, der Gabe Gottes und also Gottes zu rühmen, kann also bei Paulus nichts Negatives meinen. Zweimal formuliert er in konzentrierter Aufnahme von Jer 9,22f.: „Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn (= Gottes)“ (1Kor 1,31; 2Kor 10,17). Im Jeremiatext heißt es ausgeführt: „So spricht der Ewige: Nicht rühme sich der Weise seiner Weisheit; nicht rühme sich der Starke seiner Stärke; nicht rühme sich der Reiche seines Reichtums. Vielmehr dessen rühme sich, wer sich rühmt: mich zu begreifen und mich zu erkennen, bin ich doch der Ewige und schaffe Freundlichkeit, Recht und Gerechtigkeit auf der Erde; ja, daran habe ich Gefallen, Spruch des Ewigen.“ Woran Gott Gefallen hat, was sein Wille ist, das ist ja auch Ziel des Prüfens, zu dem Paulus die Gemeinde auffordert; und dafür stehen hier biblisch immer wieder begegnende Leitworte: Freundlichkeit, Recht und Gerechtigkeit.

Bei den nächsten beiden Sätzchen in Röm 2,18 – das ist nun der dritte Punkt – zeigt sich die größte Nähe zu den Stellen, an denen Paulus die Gemeinde zum Prüfen auffordert. Hier stellt er als spezifisch jüdisch fest: „Du erkennst den Willen (Gottes) und prüfst, worauf es ankommt.“ In Röm 12,2 spricht er vom Prüfen des Willens Gottes, in Phil 1,10 vom Prüfen dessen, worauf es ankommt. Beides gehört zusammen und expliziert sich gegenseitig, wie nun an Röm 2,18 deutlich wird, wo Paulus beides als Hendiadyoin nebeneinander stellt. Und hier sagt er auch ausdrücklich, woraus sich solches Erkennen und Prüfen speist: „unterrichtet aus der Tora“. Sie ist die Grundlage, sie ist – wie Paulus am Ende von V.20 formuliert – „die Verkörperung von Wahrheit und Erkenntnis“. Wenn aber die Erkenntnis des Willens Gottes sich im Prüfen dessen vollzieht, worauf es ankommt, und das im Unterricht aus der Tora geschieht, dann kann die Tora nicht einfach nur zitiert, dann muss sie ausgelegt werden. Gottes Wille ist nicht sozusagen fertig formuliert abrufbar, sondern wird in der Wahrnahme und im Ernstnehmen des schon Gesagten im Prüfen dessen erkannt, worauf es ankommt. So geht es um das Gewinnen von Wegweisung für gangbare Wege – es geht um Halacha. Was Paulus hier als spezifisch jüdisch beschreibt, genau das mutet er nach Ausweis der zum Prüfen auffordernden Stellen den christusgläubigen Gemeinden aus den Völkern zu.

Eine solche Gemeinde mahnt der Verfasser des Epheserbriefes: „Ihr wart ja einst Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn (= Gott). Führt euren Lebenswandel wie Kinder des Lichts! Die Frucht des Lichtes besteht in lauter Güte, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit. Prüft, was dem Herrn (= Gott) gefällt! Und habt keinen Anteil an den fruchtlosen Werken der Finsternis, vielmehr überführt sie!“ (Eph 5,8-11) Ganz ähnlich heißt es am Beginn der Gemeinderegel von Qumran: „Gott suchen mit ganzem Herzen und ganzem Leben, tun, was gut und recht vor ihm ist, wie er durch Mose geboten hat und durch alle seine Diener, die Propheten, und alles lieben, was er erwählt hat, und alles hassen, was er verworfen hat, sich fernhalten von allem Bösen, aber allen guten Taten anhangen, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und Recht tun im Land Ö“ (1QS I 1-5). Die großen Begriffe verkommen zu bloßen Parolen, wenn sie nicht umgesetzt werden in konkrete Weisungen. Der satirische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec hatte in der Zeit des kommunistischen Polen in seinen „unfrisierten Gedanken“ formuliert: „‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!‘ Und wie gelangen wir zu den Tätigkeitswörtern?“ Von den besprochenen Stellen der Bibel und der jüdischen Tradition her wäre darauf zu antworten: im Diskurs, der zwar nicht endet, der aber aus seinen Vor-Gaben Orientierung gewinnt und auf je verantwortliches und verantwortetes Handeln zielt.

Den konkreten sozialen Hintergrund bildet für Paulus die an jedem Schabbat erfolgende Verlesung und Auslegung der Tora in den Synagogen. Josephus führt in einem Kontext, in dem er über die Vorzüge des Mose gegenüber anderen Gesetzgebern spricht, u.a. Folgendes aus: „Auch den Vorwand der Unwissenheit räumte er aus. Stattdessen machte er die Tora zum schönsten und notwendigsten Bildungsgegenstand. So ordnete er an, dass wir sie nicht nur einmal, zweimal oder auch vielmals hören sollte, sondern an jedem siebten Tag sollen wir von den anderen Tätigkeiten ablassen und uns zum Hören der Tora versammeln und sie sorgfältig studieren. Ö Man mag irgendjemanden von uns nach den Gesetzen fragen, er dürfte sie alle leichter aufsagen als seinen eigenen Namen. Weil wir sie also gleich vom ersten Bewusstwerden an studieren, haben wir sie gleichsam in unsere Seelen eingraviert“.10

Diese Praxis ist von den christusgläubigen Gemeinden übernommen und in ihrer Folge von den christlichen Gemeinden fortgeführt worden, wobei die Verlesung von Schriften aus der eigenen Anfangszeit hinzutrat, aus denen der neutestamentliche Kanon hervorging. Ein anschauliches Bild darüber vermittelt der Apologet Justin aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts: „An dem nach der Sonne benannten Tag findet eine Versammlung aller statt, die in Städten und auf dem flachen Land wohnen. Da werden die Erinnerungen der Apostel (= die Evangelien) oder die Schriften der Propheten (= der erste Teil der christlichen Bibel, der im Ganzen als prophetisch galt) vorgelesen, solange es geht (also keine kurze Perikopenlesung, sondern entsprechend dem jüdischen Brauch relativ lange lectio continua). Wenn dann der Vorleser aufgehört hat, gibt der Vorsteher mündlich eine Ermahnung und eine Aufforderung zur Nachahmung dieser guten Dinge“.11 Auch hier ist deutlich, dass das ethische Verhalten im Vordergrund steht.

Aus dem zu den Paulustexten Ausgeführten dürfte deutlich geworden sein, dass Paulus kein Feind der Tora ist. Sie ist die auch ihm selbstverständliche Vor-Gabe, die vor allem bei ethischen Fragen zum Zuge kommt. Gerade in dieser Bindung kann er aber einen offenen Blick auch auf das haben, was es außerhalb der eigenen Tradition und des eigenen Bereiches an Gutem gibt. So fordert er seine Gemeinde in Philippi auf: „Im Übrigen, meine Geschwister, was immer wahr ist, was ehrbar, was recht, was rein, was liebenswert, was guten Ruf hat, was immer es an rechtem und lobenswertem Tun gibt, das bedenkt!“ (Phil 4,8) Was sich aus solchem Bedenken an Tun ergibt, bindet Paulus unmittelbar anschließend an die eigene Tradition zurück: „Was ihr gelernt, empfangen und gehört und an mir gesehen habt, das tut!“ (Phil 4,9)

6. Zusammenfassende Folgerungen

Ich versuche, einige zusammenfassende Aspekte zu formulieren:

Paulus spricht die Gemeinde als ethisches Subjekt an. Wenn dieses Subjekt seine Verantwortung wahrnehmen will, soll es wissen, von woher es reden kann, welchen Referenzrahmen es schon längst hat: die Schrift und die Auslegung vergangener Generationen. Es findet sich in einem weitergehenden Lernprozess vor, in einem lebendigen und nicht endenden Diskurs. Was gut ist, ist schon längst gesagt und muss doch immer wieder je neu gesucht werden. Was sich beim Prüfen als gut herausstellt, kann nur so behalten werden, dass es gebraucht und im Gebrauch neuer Prüfung ausgesetzt wird. Aber dieses Suchen hat in der Vor-Gabe der Schrift ein reiches und unerschöpfliches Potential. Die Bibelvergessenheit nicht nur in der Gesellschaft, sondern bis weit in den engeren Bereich der Kirche hinein kann kaum als Gewinn verbucht werden.

Wenn die Kirche sich bei diesem Prüfen auf ihre Bibel bezieht, muss sie sich bewusst sein, dass deren erster und größerer Teil zuvor anderen gehörte und bis heute gehört. Die jüdische Auslegung zu ignorieren, geschieht ihr zum eigenen Schaden. Eine veränderte Pauluslektüre müsste vor allem Protestanten davon abbringen, unter der bloßen Propagierung von „Gerechtigkeit“ Verächter des „Gesetzes“ und seiner Umsetzung in konkretes Recht zu sein.

Die Aufforderung, alles zu prüfen, bezog sich bei Paulus auf die in der versammelten Gemeinde ausgebrachten geistbegabten Beiträge. Sie wäre heute auch zu beziehen auf die theologische Tradition der Kirche, wenn anders das Prüfen in dieser Weltzeit nicht abgebrochen werden kann und das Behalten des Guten nicht sein Archivieren meint, sondern seinen Gebrauch, in dem es sich weiter als gut bewähren muss – sich aber auch als böse herausstellen kann. Auch Mehrheitsentscheidungen können bekanntlich irren. Das Jahresthema für 2005 nimmt aus dem ersten Thessalonicherbrief nur den positiven Fall des Prüfaktes auf: „Das Gute behaltet.“ Bei Paulus geht der Text so weiter, dass er auch den negativen Fall setzt (1Thess 5,22). Luther hatte das so übersetzt: „Meidet allen bösen Schein.“ Das ist eine Fehlübersetzung, die 1984 revidiert worden ist: „Meidet das Böse in jeder Gestalt.“ Im Gegenüber zu „behalten“ schwingt auch die Dimension von „abweisen“ mit. Das Gute soll behalten und getan, jede Art von Bösem soll abgewiesen und sich ihrer enthalten werden. Als böse hat sich z.B. der Anspruch der Kirche herausgestellt, das „wahre Israel“, das Volk Gottes, zu sein, der das tatsächlich existierende Israel als falsches behauptete, das es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Das hat viele theologische Aussagen mitbestimmt und zu schlimmen realen Konsequenzen geführt. Hier gilt es zu prüfen; und hier ist in den letzten Jahrzehnten auch schon einiges geschehen, um offen und auch implizit judenfeindliche Aussagen abzuweisen. Das ist jedoch ein langer Prozess, der noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Es wird noch dauern, bis es ins allgemeine kirchliche Bewusstsein gedrungen oder gar verinnerlicht worden ist, dass unser Reden immer auch in der Gegenwart Israels erfolgt. Ich möchte jedenfalls keine theologischen Aussagen mehr machen, die Israel verletzen oder gar in Frage stellen. Andererseits huldige ich keiner Wegwerfmentalität, die meint, auf grundlegende Aussagen der christlichen Tradition verzichten zu können. Meinem Erbe muss ich mich stellen. Es ist anzunehmen und verantwortlich neu zu gestalten.

Ich habe eben ausgeführt, dass als böse abzuweisen ist, was in der theologischen Tradition Israel verletzt und in Frage stellt. Positiv ausgedrückt hieße das: Was gut ist, bemisst sich dann auch daran, was für Israel gut ist. Dass Israel lebt und leben soll, schließt nicht zuletzt auch ein, dass es in seiner staatlichen Form Bestand hat. Als ich das erste Mal Israel bereiste, war es für mich die stärkste Erfahrung, in einem Land zu sein, in dem Juden in der Mehrheit sind und in dem sie in aller Selbstverständlichkeit als ihrem Land leben. Es gehört für mich zum Bedrückendsten in der Gegenwart, dass diese Selbstverständlichkeit für viele Israelis ins Wanken geraten ist, dass es ernste Sorgen um die Dauerhaftigkeit des Staates Israel gibt. Auch das, was politisch gut ist, muss sich nach meiner Einschätzung daran bemessen, was für Israel gut ist. Der sicher richtige Satz, dass wir nicht verpflichtet seien, jede Maßnahme jeder israelischen Regierung für gut zu befinden, legitimiert für mein Empfinden allzu oft ein schnelles Urteilen, Verurteilen, Richten. Demgegenüber wäre zu erinnern, dass das von uns geforderte Prüfen seinen Referenzrahmen in der Bibel hat, die einen unlösbaren Zusammenhang zwischen Gott und seinem Volk bezeugt. Die jüdische Tradition hat das bündig auf die Formulierung gebracht: „Jeder, der Israel hasst, hasst gleichsam den, der sprach und es ward die Welt.“ Und positiv: „Jeder, der Israel hilft, hilft gleichsam dem, der sprach und es ward die Welt“.12 Dieser Referenzrahmen sollte also zur Empathie mit Israel verpflichten und also wenigstens zum Versuch einer Wahrnehmung von innen. Wie Hillel sagte: „Urteile nicht über deinen Mitmenschen, bis du in seine Lage gekommen bist“.13

Vortag am 6. November 2004 auf der Studientagung des Deutschen Koordinierungs-Rates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Hannover

ANMERKUNGEN

Z.B. babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 59a.
Rainer Kessler, Micha, ?2000, S.270.
Vgl. dazu Jürgen Ebach, Das erwählte Volk und die Völker. Recht und Grenze christlicher Lektüre des Alten Testaments, in: Ders., Vielfalt ohne Beliebigkeit. Theologische Reden Bd. 5, 2002, S.249-267.
So Karl-Adolf Bauer, Leiblichkeit – das Ende aller Werke Gottes. Die Bedeutung der Leiblichkeit des Menschen bei Paulus, 1971, S.179.
Ernst Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Römer 12, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, S.198-204.
Jürgen Ebach, Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2, hg.v. Friedrich-Wilhelm Marquardt u.a., 1985 (S.5-61), S.16f.
Vgl. Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, 1999, S.67.
Babylonischer Talmud, Traktat Joma 86a. In der Parallele in Midrasch Tannaim S.25 führt das dem Lernen aus der Tora widersprechende Verhalten die Leute sogar zur Seligpreisung derer, die nicht Tora gelernt haben. Vgl. David Flusser, Artikel Paulus II. Aus jüdischer Sicht, Theologische Realenzyklopädie Bd. 26, 1996 (S.153-160), S.154.
Vgl. auch Midrasch Ester Rabba 6,2 (Wilna 10a.b) zu 2,5, wo Mordechai „ein jüdischer Mann“ genannt wird: „Warum wird sein Name ‚jüdisch‘ / ‚ein Jude‘ genannt? War es denn nicht ein Benjaminite? Weil er den Namen des Heiligen, gesegnet er, als einzigen gegenüber allen, die in die Welt kommen, bekannte.“ Das wird darauf bezogen, dass er sich nicht vor Haman beugte, der ein Götzenbild auf seinem Herzen eingegraben hatte. „Weil er also den Namen des Heiligen, gesegnet er, als einzigen bekannte, wurde er ‚Jude‘ / ‚jüdisch‘ genannt. Jude bedeutet: mein Einziger“ (jehudi jechidi).
Josephus, Gegen Apion II ßß 175.178.
Justin, Apologie I 67,3f.
Sifrej Bamidbar ß 84; vgl. Midrasch Tanchuma, Wajechi 5; Beschallach 16.
Mischna Avot 2,4.