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AN DER KANTE „DAS BRODTENER UFER“- Thomas Radbruch

Von: Lutz Gallinat

„Der Fotograf Thomas Radbruch entführt uns mit der Lyrik von Silke Thoemmes und einem Exkurs zu Thomas Mann in ein wildes Stück Natur am Rande unserer durchzivilisierten Welt, ein Ort, an dem seit Ende der letzten Eiszeit vor zehntausend Jahren Land und Meer unaufhörlich miteinander ringen.““Das Brodtener Ufer ist eine herbe Schönheit. Zwischen Travemünde und Niendorf gelegen, gehört es zu den meisten besuchten Ausflugszielen an der Ostsee. Vom Wanderweg auf der Kliffkante geht der Blick weit über das Wasser, folgt den Möwen über der Brandung und sucht meist vergeblich nach einem Abstieg an dem stellenweise über 30 Meter hohen Steilhang, und kein Besuch gleicht dem anderen, denn es machteinen Unterschied, ob sich die Küste bei ruhiger See in der Sonne zeigt, Nebel oder Dämmerung eine intime Stimmung erzeugen oder stürmische See den Steilhang angreift.

„AN DER KANTE“ ist eine Liebeserklärung an ein Stück Heimat. Das Brodtener Ufer erlebte der Fotograf zum ersten Mal an der Hand seiner Mutter. Und diese Begegnung mit der wilden Natur des Brodtener Ufers hinterließ bei dem kleinen Stadtjungen lebenslang prägende Erinnerungen und Bilder.

„AN DER KANTE“ ist auch sinnbildlich zu verstehen. Wenn hier physisch die Kulturlandschaft endet, dann bedeutet dies auch, dass hier die Macht des Menschen endet. Sein Glaube, außerhalb der Natur zu stehen und sie beherrschen zu können durch Technik, Chemie und Medizin, ist in den Jahrhunderten der Industrialisierung zu einer Hybris gewachsen, die grenzenlosen Fortschritt durch grenzenloses Wachstum für grenzenlosen Wohlstand anstrebt. Kein Erdbeben oder Vulkanausbruch hatte bisher darauf Einfluss.

Doch dann kam das kleine Corona-Virus und die Welt stand still. Es hat gezeigt, dass wir eine Bioform sind, die prinzipiell wie jede Art auf diesem Planeten in den Grenzen der Natur lebt.

An der Kante befinden wir uns auch im Hinblick auf die Erschöpfung der Materialien, die wir aus der Natur für unseren Wohlstand entnehmen. Wenn wir in der Zeit der Herausgabe dieses Buches bereits die Regenerationskraft von zwei Erden für die Befriedigung unserer künstlichen Wünsche brauchen, dann zeigt dies, dass eine entscheidende Grenze bereits überschritten wurde.

Der Blick vom hohen Ufer über die stille Ostsee wie auch das Erleben der lauten Wellen, die gegen den Hang schlagen, macht demütig. Und wenn der Autor bei seinen zahlreichen Begegnungen mit dem Brodtener Ufer gefangen war von immer neuen Motiven und Details, so ist diese Demut vielleicht der wichtigste beglückende Fund, den der Leser aus diesem Buch mitnimmt“, schreibt Dr. Wolfram Eckloff in seinem Vorwort aus Lübeck, im August 2020.

Thomas Radbruch schrieb dazu am 10.Dezember 2020: “Die Idee zu dem Projekt, das ich Ihnen heute vorstellen möchte, entstand im März dieses Jahres. Einem Moment, an dem wir alle wieder einmal daran erinnert wurden, dass das Leben endlich ist. Nachdem wir uns erschrocken den „Konsumschlaf“ aus den Augen gerieben hatten, stellte sich natürlich die Frage nach dem WARUM?? und welche Folgen eigentlich unser offensichtlich naturferner Lebensalltag hat?

In mir, dem kleinen Jungen aus den Trümmerlandschaften der Städte, hatte an der Hand meiner Mutter 1949 die erste Begegnung mit der überwältigenden Natur des Brodtener Ufers lebenslang prägende Bilder und Erinnerungen hinterlassen. Zu der Zeit ein Ort an der Kante eines in seinen Grundfesten traumatisierten Landes auf der Suche nach Frieden.

Heute siebzig Jahre später im März 2020 sitze ich wieder am Rande unserer Welt…. Das Corona-Virus hat uns gerade aus dem gewohnten Fortschrittsraum gerissen und deutlich gemacht, dass der Mensch kein

isolierter Organismus ist, der mit der von ihm entwickelten Technik seine Zugehörigkeit zum Ökosystem dieses Planeten ignorieren kann!

Da ich wenige Tage zuvor mit der Ausstellung „20 ways to leave your smartphone“ in Hamburg gescheitert – die Ausstellung fiel just in den Tag des lockdowns – und durch die rettende Rolle des Smartphones in der durch CORONA auftretenden Notlage natürlich auch mein satirischer Blick auf das Thema einfach verdampft und von der Wirklichkeit überholt war!

Es entstand dann am Brodtener Ufer, das mir in schwierigen Lebenssituationen schon oft eine Zuflucht war, die Idee, von IHM und der heilenden Wirkung seiner wilden Natur zu erzählen!

Ich stelle mir vor, dass ein Bericht über dieses 10-monatige Projekt und dem daraus entstandenen Bildband für die Zuschauer etwas Freude in unsere außergewöhnliche Situation und die dunkle Jahreszeit bringen könnte.

Die Lyrik von Silke Thoemmes ist ausdrucks-, gehaltvoll, bilderreich, feinsinnig, ausgefeilt, erlesen, seraphisch, ausgewogen, ausziseliert, harmonisch, partiell mystisch-entrückt, existenzialistisch orientiert und philosophisch inspiriert. Sie erreicht mit ihrer kühnen Metaphorik und klassischen Bezügen eine kosmologische Dimension. Die Gedichte sind von einer extremen Abbreviatur geprägt und enthalten reizvolle surrealístische und expressionistische Wendungen und Neologismen, Archaismen, Alliterationen, Montagen, Collagen und eine eindrucksvolle Goethe- Anspielung. Pointilistisch gestaltet die Künstlerin originelle, phantasievolle und schwebende Wortlandschaften mit einem Feuerwerk an Ideen. Sie verdichtet manierierte, stilisierte und pittoreske lyrische Impressionen zu einem interessanten phantasmagorischen Mosaik. Die Schriftstellerin leuchtet phänomenologisch orientiert in das Wesen der Dinge hinein. Die pointierten Poeme beinhalten auch subtile Wortspiele und Paradoxien. Die Lyrik ist intellektuell, akrobatisch, artifiziell und psychologisch reizvoll. Tief- und hintergründig mutet sie zum Teil kafkaesk an und ist auch theologisch ausgerichtet. Stimmungsreich und geheimnisvoll spricht die Dichterin auch den Weltschmerz und den Vanitas-Gedanken aus. Das Meer wird ornamental und dekorativ zu einer faszinierenden Metapher mit einer beachtlichen Arbitrarität, beeindruckenden Panoramen und Idyllen und einer virtuellen Realität generiert. Die lyrische Wesensschau ist auch von Traum und Trance und einer Hölderlinschen Sprachgewalt gekennzeichnet. Silke Thoemmes nimmt die Welt sehr intensiv wahr.

Philosophische und literarische Bezüge zu Nietzsche und Heidegger sind evident.

Tina Webler schreibt in ihrem aufschlussreichen und informativen Exkurs „Umbruch, Wandel und das Gefühl von Freiheit“- „Tony Buddenbrook und das Brodtener Steilufer“ anschaulich und lebendig. Die Prosa

ist von einem intensiven Erzählsog geprägt. Der Autorin gelingen beachtliche Psychogramme. Sie gefällt durch genaue Beobachtung und überzeugt auch im Deskriptiven. Tina Webler hatte vor allem auch mit Blick auf den Roman „Buddenbrooks“ und den Essay „Lübeck als geistige Lebensform“ akribisch recherchiert und verbindet virtuos und brillant Wissenschaftlichkeit und Literarizität. Eine Analogie zwischen den Gedanken des jungen Morten Schwarzkopf, der als Student im Untergrund gegen den Adel rebelliert, und die markante, natürliche Kulisse des Brodtener Steilufers, in denen Umbruch und Wandel eindrucksvoll symbolisiert werden. Tony lasse sich jedoch nicht darauf ein, auf Morten, auf die Weite und die unberechenbare Schönheit des Brodtener Ufers. Sie solle dies für den Rest ihres Lebens aus tiefstem Herzen bedauern. Für Tony hätte sich alles ändern können. So wie das Brodtener Steilufer, das sich seiner Natur folgend und von den rauen Gezeiten bedroht, stetig ändert und doch- wild und unverwechselbar bleibe.

„AN DER KANTE“
DAS BRODTENER UFER
Thomas Radbruch
VERLAG AN DER KANTE
Thomas Radbruch
Kleine Altefähre 17
23552 Lübeck
Preis: 39 Euro

Produziert von:
PORTANDI

Thomas Radbruch richtete seinen herzlichen Dank an die Possehl-Stiftung und an alle, die ihn bei der Arbeit an diesem Projekt unterstützt haben.

Layout:

Thomas Radbruch
Andreas Lahn
1. Auflage: 2020