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Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Deutschland wegen Polizeigewahrsam auf G8-Gipfel

Viereinhalb Jahre nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm hat der Europäische
Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg mit einem am heutigen Tag veröffentlichten Urteil
die Freiheitsentziehung zweier Aktivisten für rechtswidrig erklärt. Der Gerichtshof hat
festgestellt, dass die beiden Beschwerdeführer Sven Schwabe und M.G. zu unrecht für die
Dauer von fast sechs Tagen in polizeilichem Präventiv-Gewahrsam gehalten wurden,
nachdem bei einer Fahrzeugüberprüfung Transparente mit den Aufschriften „Freedom for all
prisoners“ und „Free all now“ bei ihnen gefunden worden waren.Die deutschen Gerichte und die deutsche Bundesregierung hatten gemeint, dass die beiden
damit zu „Gefangenenbefreiung“ aufrufen wollten und durch Wegsperren daran gehindert
werden müssten. Für Sven Schwabe und M. G. bedeutete der Aufenthalt im Gefängnis
bereits vor und während des gesamten G8-Gipfels, dass sie weder Protest gegen (im Laufe
der Woche über 1.000) widerrechtliche Freiheitsentziehungen durch die Polizei noch gegen
die Politik der G8 äußern konnten. Die Freiheitsentziehung der beiden reihte sich damit ein in
die Praxis deutscher Behörden, ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeitserwägungen
politischen Protesten auf der Straße wie aktuell beim Castor-Transport mit härtesten Mitteln
wie der Freiheitsentziehung oder körperlicher Gewalt zu begegnen. Weitere Beispiele hierfür
sind Gegenveranstaltungen zu Nazi-Aufmärschen oder Proteste gegen Großbauvorhaben
wie Stuttgart 21.
Der Straßburger Gerichtshof hat nun festgestellt, dass diese Form der Freiheitsentziehung
gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Verletzt wurden nach
dem Urteil vom 8. November 2011 das Freiheitsrecht aus Art. 5 sowie die
Versammlungsfreiheit aus Art. 11 der Konvention. Der Gerichtshof prüfte eine Verletzung der
Meinungsfreiheit nicht gesondert, da die Meinungsäußerung im Rahmen einer Versammlung
geschehen sollte und insoweit insgesamt Art. 11 EMRK anzuwenden sei.
Rechtsanwältin Anna Luczak: „Gerade vor dem Hintergrund der polizeilichen Praxis,
Freiheitsentziehungen als Abschreckungsmethode gegen politische Proteste einzusetzen, ist
diese ausdrückliche Einbeziehung der Versammlungsfreiheit sehr zu begrüßen.“
Besonders wichtig ist die Begründung dafür, wieso der Gerichtshof Deutschland wegen der
Freiheitsentziehung verurteilt hat. Denn dieser zufolge steht nun nach der
Sicherungsverwahrung eine weitere Form der Freiheitsentziehung in Deutschland in Frage.
Wie die Sicherungsverwahrung kann der Polizeigewahrsam nach deutschen Gesetzen
angeordnet werden, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass eine Person in
Freiheit Straftaten begehen würde.
Im nun vom Gerichtshof entschiedenen Fall des Polizeigewahrsams gründete sich die
Prognose auf die angebliche Gefährlichkeit der Aufschrift „Freedom for all prisoners“. Keine
der deutschen Behörden, auch die Bundesregierung in ihren Stellungnahmen nicht, würdigte
richtig, was nun der Gerichtshof eindeutig festhielt: Der Slogan „Freiheit für Gefangene“ hat
viele Bedeutungen und kann auf keinen Fall nur als Aufforderung zu einer Straftat gelesen
werden. Der Gerichtshof hat deshalb schon allein wegen der fehlerhaften Deutung der
politischen Äußerung der Beschwerdeführer die Freiheitsentziehung als konventionswidrig
eingestuft. Weitere Verfahren werden zeigen, ob es überhaupt eine denkbare Konstellation
gibt, in der die „sichere Prognose einer unmittelbar bevorstehenden Straftat“ einen
Polizeigewahrsam nach der Konvention zulassen kann.
Rechtsanwältin Anna Luczak: „Die deutschen Behörden – Polizei und Justiz – müssen nach
diesem Urteil ihre Praxis der Freiheitsentziehung auf den Prüfstand stellen. Der Gerichtshof
hat ausdrücklich festgehalten, dass der Polizeigewahrsam der Beschwerdeführer keine der
fünf in Art. 5 Abs. 1 EMRK abschließend benannten Formen zulässiger Freiheitsentziehung
war. Solange keine konkret zu erwartende und zu ahndende Tat oder ein Pflichtverstoß zu
benennen ist, darf das Freiheitsrecht nicht beschränkt werden.“
Sven Schwabe zeigt sich nach dem Urteil erleichtert: „Es ist schon seltsam, dass deutsche
Gerichte, denen die Sache insgesamt sieben Mal zur Entscheidung vorlag, nicht eingesehen
haben, was nun auf internationaler Ebene ganz klar gesagt wurde: Es gab überhaupt keinen
Grund, uns fast sechs Tage ins Gefängnis zu sperren. Es gab keinen Grund, uns in der Zelle
unsere Lebenszeit vergeuden zu lassen. Das Urteil aus Straßburg kann das nicht
ungeschehen machen. Aber Polizei und Justiz müssen nun reagieren und dafür sorgen,
dass die Polizei nicht mehr Protestierende einfach mitnehmen, einkesseln oder für Stunden
oder gar Tage wegsperren darf.“